… Später erschienen Herr Rubinstein und die kleine Germaine. Man speiste zu Abend, es gab Schinken und Eier, dazu wieder Tee und für jeden ein Gläschen Wodka. Herr Rubinstein aß viel und schweigsam. Er war ein weichlicher Koloß mit sehr gutmütigen Augen – Hundeaugen, wie Marion fand – und einer grauen, auffallend porösen Gesichtshaut. Die kleine Germaine war sehr hübsch und ernst. Sie rührte beinah nichts von der Mahlzeit an, was ihre Mutter besorgt tadelte. „Ich habe keinen Hunger”, sagte die kleine Germaine. Nachdem der Tisch abgeräumt war, begann Herr Rubinstein, beinah ohne Übergang, von alten russischen Tagen zu erzählen. Anna Nikolajewna versuchte, das Gespräch auf aktuelle Pariser Ereignisse zu bringen; etwas krampfhaft plauderte sie über einen Ministersturz, eine Opernpremière. Léon aber fand Mittel und Wege, immer wieder auf seine Moskauer Reminiszenzen zu kommen. „Heute habe ich den alten Petroff im Klub getroffen”, berichtete er. „Mein Gott, wenn ich mich erinnere …”
Die kleine Germaine verabschiedete sich ziemlich bald. „Ich habe eine Verabredung”, erklärte sie kurz auf die unruhige Frage der Mutter. Herr und Frau Rubinstein wechselten einen betrübten, ratlosen Blick. Die Tochter, in grausamer Wortlosigkeit, setzte sich vorm Spiegel ihr schickes schwarzes Hütchen auf. Der Rahmen des Spiegels war mit dicken, drolligen Engeln verziert: eine der niedlichen Arbeiten Anna Nikolajewnas, die sich als unverkäuflich erwiesen hatte.
Martin war den ganzen Tag unruhig. ‚Auf was warte ich’, dachte er. Paris interessierte ihn nicht. Er hatte keine Lust auszugehen. Er versuchte zu schreiben. Das Papier vor ihm blieb leer. Auch das Buch, das er angefangen hatte zu lesen, langweilte ihn.
Er wußte, worauf er wartete.
Der Geruch von Staub und einem süßlichen Jasmin-Parfum, der sein enges Hotelzimmer füllte, war ihm ekelhaft. Trotzdem brachte er bis gegen Abend die Energie nicht auf, auszugehen. Er klopfte mehrfach bei Marion an, die im selben Stockwerk wohnte wie er; aber sie schien den ganzen Tag unterwegs zu sein. Es gab auch noch ein paar andere Bekannte im Hotel „National”; Martin hatte keine Lust, sich mit ihnen zu unterhalten. Er schaute auf die Straße hinaus und beobachtete die Leute, die gegenüber im kleinen Bistrot ihren Kaffee oder Apéritif tranken. Einige kauften sich Zigaretten und Briefmarken. Martin konnte ihre Gespräche und Gelächter hören. Plötzlich ertappte er sich dabei, daß er an Berlin dachte.
Als er abends das Hotel verlassen wollte, begegnete er Kikjou vor der Loge des Concierges. „Ich suche Sie”, sagte Kikjou, als ob das eine Selbstverständlichkeit wäre. ‚Haben wir denn ein Rendezvous für heute Abend gemacht?’ überlegte Martin einen Augenblick lang. Er war aber vorsichtig genug, seine Zweifel nicht auszusprechen. Vielmehr sagte er nur: „Das ist nett. Wohin gehen wir essen?”
Kikjou wußte ein kleines Restaurant in der rue de Seine. „Es ist eigentlich gar kein Lokal”, sagte er, „nur eine enge Stube, wo gerade zwei Tische Platz haben. Die Patronne kocht selber, und das Fräulein Tochter bedient. Aber man ißt dort ausgezeichnet und gar nicht teuer.”
Die Unterhaltung, abwechselnd deutsch und französisch geführt, blieb erst bei literarischen Gegenständen. Martin sagte, wie sehr er Rimbaud liebe, Kikjou gestand seine Bewunderung für Hölderlin und Novalis. Er kannte sich gut aus in den Schönheiten deutscher Dichtung. Später erzählte er von seiner Kindheit und von seiner Familie. Martin bekam Einblicke in ziemlich wirre häusliche Verhältnisse. Kikjous Verwandte lebten teils in Rio de Janeiro, teils in Lausanne und auf dem Lande in Belgien. Der Vater, in Brasilien ansässig, war Chef einer großen Firma, und wollte den Sohn dazu zwingen, ins Geschäft einzutreten. Da Kikjou darauf bestand, in Paris zu sein und Gedichte zu machen, statt sich vernünftig zu beschäftigen, grollte der Vater und schickte kein Geld. „Oft ist die Kasse leer”, sagte Kikjou und lächelte betrübt. Manchmal reiste er zu einem Onkel nach Belgien. Der bewohnte ein altes Haus auf dem Lande; Martin bekam den Eindruck, daß es sich um einen etwas wunderlichen alten Herrn handelte; aber Kikjou fand ihn bedeutend. „Onkel Benjamin ist ein gläubiger Katholik”, erklärte er und strahlte Martin aus den vielfarbig schimmernden Augen an. Der Onkel umgab sich mit Heiligenbildern, Reliquien, geweihten Kerzen und lateinischen Büchern. „Er hat seine eigene kleine Kapelle”, berichtete Kikjou stolz. „Ich fühle mich wohl bei ihm; wenn ich nicht fürchten müßte, ihn zu stören, wäre ich immer dort.” Sein Blick schien benommen; es war vielleicht nur die Wirkung des Weines, vielleicht hing es aber auch mit dem Gedanken an Weihrauchduft und mildes Halbdunkel in Onkel Benjamins Kapelle zusammen. „Manchmal hat er auch Visionen”, sagte der Neffe noch, und in seinen Augen war der Glanz beunruhigend. „Engel suchen ihn auf. Er erzählt, daß es immer so ein metallisch klirrendes Geräusch gibt, wenn sie in seine Stube treten. Das kommt von ihren Flügeln, die beständig in Bewegung sind; es ist wie ein nervöser Tick, sagt Onkel Benjamin, aber dabei sehr großartig. Sie müssen immer ihre großen Flügel regen, als kämen sie sonst aus der Übung und würden das Fliegen verlernen; es verhält sich wohl so ähnlich wie bei Rekordschwimmern oder Radfahrern, die auch gleich aus der Form kämen, wenn sie nicht immer trainierten. Ich hätte so gerne einmal einen Engel gesehen. Aber sie zeigen sich nur, wenn niemand im Haus ist außer Onkel Benjamin und der alten Magd. Sogar ich, obwohl ich doch an sie glaube, scheine sie zu vertreiben. Das ist auch der eigentliche Grund, warum ich nie lange beim Onkel bleibe. Er müßte das Gefühl bekommen, daß ich ihm die liebsten Gäste verscheuche. Das wäre mir natürlich sehr unangenehm. Außerdem kränkt mich das Verhalten der Engel ein wenig; ich finde es gar zu spröde.” Nachdem er dies alles geäußert hatte, legte er ruhig seine Serviette zusammen und schlug vor: „Unseren Kaffee trinken wir besser wo anders. Er ist hier nicht besonders gut.”
Sie saßen im Café „Flore” am Boulevard St. Germain. Nun sprachen sie auch über Politik. „Sie sind vor den Nazis geflohen?” fragte Kikjou. „Ich mag sie auch nicht. Neulich habe ich lange mit meinem frommen Onkel über sie gesprochen – er ist ein so kluger Mann. Der deutsche Führer, sagt er, ist vom Teufel geschickt; der leibhaftige Antichrist. In so großer Gefahr wie jetzt, sagt Onkel Benjamin, ist die Christenheit seit ihrem Bestehen noch nicht gewesen. Das Rassen-Dogma bedroht die Grundlagen unseres Glaubens, die Germanen kommen aus den Urwäldern, um die Christliche Kultur zu zerstören, und sind fürchterlicher, als die Hunnen und Türken es waren …”
Sie redeten lange. Aber zwischen ihnen waren die Worte nicht mehr das Entscheidende. Ihre Blicke führten eine andere Sprache.
Der kleine Helmut Kündinger kam vorbei und schaute sie traurig an. „Gefällt es Ihnen in Paris?” erkundigte er sich bei Martin auf seine korrekte und schüchterne Art. „Es ist eine herrliche Stadt. Ich bin den ganzen Tag spazieren gegangen und war auch lange im Louvre. Aber ich mußte immer an meinen Freund denken, der dies alles so genossen hätte …” Da man ihn nicht dazu aufforderte, sich an den Tisch zu setzen, wünschte er schmerzlich einen guten Abend und ging langsam weiter.
Gegen Mitternacht sagte Martin: „Wir könnten noch ein bißchen in mein Hotel gehen. Es ist zwei Minuten von hier. Mir scheint, ich habe sogar noch ein bißchen Whisky …”
Auf der Treppe, im Hotel „National”, begegnete ihnen Marion.
„Weißt du schon das Neueste?” sagte sie zu Martin. „Meine Mama und Tilly sind heute in Zürich angekommen.”
„Nein, sowas!” sagte Martin. „Wie muß es in Deutschland aussehen, wenn sogar Frau von Kammer es nicht mehr erträgt? – Willst du noch einen Schnaps mit uns trinken, Marion?”
„Danke”, sagte Marion. „Ich falle um vor Müdigkeit. Unterhaltet euch gut! Viel Vergnügen!”
Frau Geheimrat Marie-Luise von Kammer hatte mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Tilly und Susanne, am 16. April 1933 die deutsche Heimat verlassen: kaum zwei Wochen nachdem ihr ältestes Kind, Marion, nach Paris in die Emigration gegangen war. Frau von Kammer – plötzlich vor die Wahl gestellt, in welchem Lande sie am liebsten wohnen wolle – entschied sich, nach nur kurzem Schwanken, für die Schweiz, wo sie mit ihrem Gatten beinah jedes Jahr die Ferienwochen zugebracht hatte. In der Schweiz wiederum kamen vor allem das Tessin, das Engadin oder Zürich in Frage. Frau von Kammer behauptete, daß sie persönlich einen stillen, ländlichen Platz, etwa Ascona oder Sils Maria, vorziehen würde: