Der Vulkan. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066384098
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Zylinderhut trug. Im Gehrock, mit weißen Gamaschen und weißen Handschuhen, sah er wie ein etwas schäbiger Diplomat aus. Mit einem zierlichen, leichten Stab – wie Dirigenten oder Zauberkünstler ihn benützen – wies er, nachlässig-anmutig, auf den Trauerriesen. „Mein junger Freund ist der größte Mensch der Erde”, erklärte der Herr im Gehrock mit müde näselnder Stimme. „In weitem Abstand”, fügte er verächtlich hinzu, „folgt der sogenannte Riese Jack, zweieinhalb Zentimeter kleiner als mein junger Freund.” – Die Aussprache des Eleganten hatte einen feinen, unbestimmbar exotischen Akzent. „Mein junger Freund”, fuhr er fort, „ … äh’ …” Und nun schien er vor Langerweile schlechterdings nicht weiter zu können. Er gähnte ungeniert und verstummte mehrere Sekunden lang – ehe er einen frischen Anlauf nahm und hastig weiter berichtete: „Mein junger Freund ist zu Helsingfors in Finnland geboren.” Das Wort „Helsingfors” servierte der Gehrock wie eine besondere Delikatesse, alle Vokale auf eine höchst elegante und übrigens völlig willkürliche Art verändernd. „Seine beiden Eltern hatten normale Größe, seine Geschwister waren eher etwas zu klein, er selber war schon im zarten Alten von vierzehn Jahren zwei Meter lang, seine Verlobung mußte auseinander gehen, weil die Braut sich auf die Dauer vor seinem Körpermaß ängstigte, mein junger Freund ist physisch und geistig völlig gesund, seine Lieblingsspeise ist die bekannte dänische rote Grütze, willst du nicht ein Liedchen singen, Gustav?” Der Herr ließ den Zeigestab sinken, wandte sich angewidert von seinem Schützling ab, und, ohne auch nur Goliaths Kopfnicken abzuwarten, verließ er mit hastig trippelnden Schritten, als hätte man ihn beleidigt, das Podium. Der lange Gustav hub zu singen an:

      „Muß i denn, muß i denn

      zum Städtele hinaus …”

      Die Stimme des armen Riesen kontrastierte verblüffend zum Format seines Körpers. Es war eine schrecklich kleine, durchaus verkümmerte Stimme, was sich da hören ließ; eine zwergische Stimme – hoch, dünn und piepsend. Ein mißzufriedener Säugling gibt so winzige, greinende Töne von sich. „Zum Städtele hinaus …” wiederholte weinerlich die Mißgeburt, und Marie-Luise dachte: ‚Warum singt er wohl gerade dieses Lied? Vielleicht ist es seine Lieblingsmelodie, oder er kennt gar keine andere … Schrecklich: er kennt wohl keine andre; dieses Lied ist gewissermaßen alles, was er kann und hat …’

      „Und du, mein Schatz, bleibst hier …”

      An dieser Stelle kam aus dem dunklen Hintergrund der Scheune ein leiser Schrei. Eine Dame hatte ihn ausgestoßen; nun erhob sie sich hastig; ein klein wenig schwankend bewegte sie sich auf die Ausgangstür zu. Da war es an Marie-Luise, leise zu schreien. Sie erkannte die Dame, es war eine alte Freundin, die schöne Tilla Tibori, eine Schauspielerin.

      Auch Frau von Kammer sprang auf, „nicht möglich”, rief sie, „du hier, Tilla!” Marie-Luise küßte Tilla auf beide Wangen, hinter ihnen wimmerte das Wunder von Helsingfors noch einmal: „Und du, mein Schatz, bleibst hier …” Nun sang er also nur noch für die beiden Kinder in der ersten Reihe. Diese übrigens hatten, während Marie-Luise und Tilla sich umarmten, ein schrilles kleines Kichern hören lassen – sei es, weil sie die Kußzeremonie zwischen den Damen drollig fanden; sei es, weil der Riese sie amüsierte. Die Kinder, in der Scheune mit Goliath allein gelassen, rückten noch enger aneinander, und flüsterten sich zu: „Uii … Jetzt wirds fein!” – als sollte der Hauptspaß nun erst beginnen, während die Veranstaltung in Wahrheit doch schon ihrem Ende zuging.

      Die Freundinnen standen im Freien; Lärm, Geruch und billiges Gefunkel des Volksfestes empfingen sie. Marie-Luise und Tilla hatten es eilig, den Bezirk des Rummelplatzes hinter sich zu lassen. Zunächst waren sie Beide viel zu überrascht von dieser Wiederbegegnung – nach so vielen Jahren! und in so groteskem Milieu! –, um Zeit zur Gerührtheit zu finden. Als sie aber die stillere Seepromenade erreicht hatten, legten sie sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und betrachteten sich. Beide mußten denken: Mein Gott, die Ärmste – sie ist auch nicht jünger geworden. Und ein Übermaß an Verkehr scheint sie auch nicht gerade zu haben, wenn sie sich alleine zu so traurigen Belustigungen begibt …

      Marie-Luise und Tilla waren als Schulmädchen in Hannover gute Freundinnen gewesen, obwohl Tilla mehrere Jahre jünger als die kleine von Seydewitz war. Sie hieß damals nocht nicht Tibori – diesen Namen hatte sie sich erst zugelegt, als sie zur Bühne ging –, sondern Hamburger. Ihrem Vater gehörte das größte Warenhaus am Ort. Die Hannoveraner Gesellschaft hatte den intimen Verkehr zwischen den jungen Mädchen – ein Umgang, der vom alten General Seydewitz nicht nur geduldet, sondern geradezu protegiert wurde – als etwas anstößig empfunden. Hamburgers waren zwar respektable Leute, auch wohlhabend; aber die kleine Tilla sah eben doch unerlaubt orientalisch aus mit ihren weiten, mandelförmig geschnittenen, dunklen, verführerisch feuchten Augen. Marie-Luise ihrerseits, spröd und ziemlich ungelenk, wie sie war, adorierte die reizbegnadete Freundin.

      Erst als Tilla anfing, in Berlin Erfolge zu haben, und Marie-Luise den Professor von Kammer heiratete, begann die Entfremdung. Wie lang war das her? „Long long ago”, wie die Tibori nun konstatierte. Ihre Stimme hatte noch den vollen, süßen und tiefen Klang; nur schien jetzt ein Unter- und Nebenton von Klage mitzuschwingen. Wie alt mochte die Schauspielerin sein? Marie-Luise rechnete geschwind, mit jener grausamen Genauigkeit, die Frauen stets haben, wenn sie das Alter ihrer Freundinnen kontrollieren. Sie kam zu dem Resultat: mindestens vierundvierzig. Dafür sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung – hochelegant, in ihrem leichten, dunkelblauen, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm, la belle Juive, immer noch, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Aber gewisse Schärfen gab es nun doch in Tillas schönem Gesicht – wie die aus echter Sympathie und leichter Schadenfreude gemischte Aufmerksamkeit der älteren Freundin konstatierte –: der dunkelrot gefärbte, große, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu großen Nüstern hatte einen nervösen Charakter – den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen.

      Sie gingen, Arm in Arm, die Seepromenade entlang, weg von der Stadt. Die Bogenlampen wurden seltener, streckenweis lag der Weg im Dunkel, von den Bänken, die diskret zwischen den Gebüschen verborgen lagen, flüsterten die Liebespaare, ihre gedämpften Gelächter vermischten sich mit dem monotonen, ganz leisen Plätschern des Sees. Die Freundinnen blieben stehen und schauten über das Wasser. „Hübsch, wie drüben, auf dem anderen Ufer die Lichter allmählich ausgehen”, sagte Marie-Luise. „Und wie die letzten sich im Wasser spiegeln …”

      Beide mußten daran denken, wie oft sie früher – Arm in Arm, wie jetzt – durch eine milde Nacht wie diese spaziert waren – und Wasser hatte es damals wohl auch gegeben, und Lichter, die sich darin spiegelten. „Es ist wirklich beinah dreißig Jahre her …” sagte eine von ihnen; vor einer halben Stunde hatten sie die erschreckende Zahl einander noch nicht eingestehen wollen. Und Tilla, nach einer großen Pause: „Es ist, um schrecklich sentimental zu werden … Ich fürchte, wir sind es schon. Gehen wir lieber in ein Café.” –

      Im Garten des Café „Terrasse” war es noch ziemlich voll. Unter den Bäumen hatte man bunte Lampions angebracht; es sah nach Italienischer Nacht aus, nach „garden-party”, und mondäner sommerlicher Geselligkeit. – „Hier ist es ja wirklich ganz nett”, bemerkte Marie-Luise, die sich neugierig und befangen umschaute. „Warum sollte es denn nicht ganz nett sein?” lachte Tilla. „Bist du denn noch nie hier gewesen?” – Darauf Marie-Luise, etwas beschämt: „Nein – zufällig noch nicht … Ich glaube, meine Tochter kommt manchmal her”, fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu. Tilla wurde vom Nachbartisch gegrüßt. „Es sind Kollegen von mir”, erklärte sie. „Mit einigen von ihnen habe ich noch voriges Jahr in Frankfurt zusammen gespielt. Die sind jetzt hier, am Schauspielhaus, engagiert.” – Da haben wir also die „Emigrantenkreise”, dachte Marie-Luise. So arg sehen sie gar nicht aus. Ob Bekannte von Tilly darunter sind?

      Nun erst – sie waren schon über eine Stunde zusammen – begannen die Freundinnen so recht, sich auszufragen: Was treibst du in Zürich? Wie lange bist du schon hier? Tilla berichtete, seit einem Vierteljahr habe sie alle ihre Energien darauf konzentriert, perfekt englisch zu lernen. – In