Es war bitter, allein zu sein. Nun empfand Frau von Kammer es mehr denn je, daß zwischen ihr und den beiden Töchtern ein wahrhaft herzliches, spontan vertrauensvolles Verhältnis sich niemals hatte herstellen wollen. Sie schrieb lange Briefe nach Paris, an Marion. Aber diejenigen, in denen von ihren Gefühlen und Nöten die Rede war, schickte sie niemals ab, sondern nur die anderen, welche von der Wohnungseinrichtung oder von einem Abend im Stadttheater erzählten. Marions Antworten – mit einer großen, zugleich energisch beschwingten und fahrigen Schrift bedeckte Zettel – waren selten mehr als ein paar launig-barocke Redensarten, aphoristische Wutausbrüche gegen die Nazis oder wirre Andeutungen, das Pariser Leben betreffend. – Susanne sendete aus dem Internat pflichtgemäß ihre wöchentlichen Berichte; sie waren stets trocken gehalten, ihr Inhalt schien befriedigend, es fehlte ihnen jeder Hauch von Phantasie, jeder Atem von Zärtlichkeit.
Und Tilly? Sie lebte in der Nähe der Mutter, und schien weiter von ihr entfernt zu sein als die beiden abwesenden Töchter. Marie-Luise wußte kaum, mit wem ihr Kind seine Tage verbrachte. Von den Schreibmaschine- und Stenographie-Stunden konnte ihre Zeit keinesfalls ganz ausgefüllt sein. Tilly schien neue Bekannte, vielleicht Freunde zu haben. Frau von Kammer hörte sie am Telephon plaudern und Verabredungen treffen. Es waren wohl Emigranten – Marie-Luise wußte, daß es ihrer ziemlich viele in Zürich gab. Tilly traf sich mit ihnen in den Caféhäusern. Niemals brachte sie einen dieser Menschen in die Mythen-Straße. Frau von Kammer konnte dies als Rücksicht auffassen. Immerhin hätte das Kind ja einmal fragen können, ob die Mama einen ihrer neuen Bekannten bei sich zu empfangen wünsche. Wahrscheinlich würde Marie-Luise abgelehnt haben. Sie empfand kein Bedürfnis, Leute zu sehen, mit denen sie wohl kaum mehr gemeinsam hatte, außer eben ein Gefühl: die Antipathie gegen die Nazis. Fraglich blieb nur – dachte Frau von Kammer –, ob ihr ein Deutschland, das so, wie diese Emigranten sichs wünschten, regiert war, erträglicher gewesen wäre als das Dritte Reich. Man durfte vermuten, daß die meisten jener Exilierten „Radikale” waren –: ein Begriff, mit dem die Geheimratswitwe vage, aber keineswegs erfreuliche Vorstellungen verband. Da traf man sich also abends, in einer Wohnung, wo es gewiß recht unordentlich aussah, oder im Café, und diskutierte bösartig über die Revolution. Ein laut redender, reichlich Alkohol konsumierender Kreis – malte Marie-Luise sich aus –, und eine von der Gesellschaft war also ihre Tochter Tilly. Manchmal mochte es ja recht angeregt zugehen; es wurde gelacht, Frau von Kammer hatte schon so lange nicht mehr laut und herzlich lachen hören. Aber nein: ihr Milieu war dies entschieden nicht … Da war, immer noch, die Einsamkeit besser.
Die Einsamkeit war nicht gut. Auf die Dauer wurde es fast unerträglich, durch die Straßen dieser schönen, sommerlichen Stadt zu gehen und zu niemandem sagen zu können: „Schau, wie die Flügel der Möwen heute wieder in der Sonne leuchten!” Oder: „Mir kommt es vor, als wäre der See heute noch blauer, als er gestern war.”
Das Leben in Zürich war heiter. Die schöne und reiche Stadt schien ihre Bürger – oder die Fremden, die in den gepflegten Hotels an der Bahnhofstraße, an den Seeufern logierten – vergessen lassen zu wollen, was im großen, tragischen Nachbarlande täglich, stündlich an Jammervollem und Bösem, an Schauerlichem und Gemeinem geschah. Zürich strahlte. An den freundlich bebauten, höchst zivilisierten Ufern seines Sees hatten Wohlstand und Biederkeit sich niedergelassen. In diesen besonnten Juni-Wochen meinte man, hier nur glückliche Menschen zu sehen; die Unglücklichen zeigten sich nicht. Die Badeanstalten am See waren überfüllt, wie die eleganten Konditoreien, die Hotel-Terrassen, die Cafés, die populären Biergärten. Wohin man schaute – braungebrannte, lachende Gesichter. Junge Leute gingen in Nagelstiefeln und Leinenhosen umher, schwer beladen mit ihrem Rucksack und doch leichten Schrittes; sie kamen von Bergtouren, oder sie brachen gerade zu Exkursionen auf. Bei „Sprüngli” oder bei „Huguenin”, an der Bahnhofstraße, saßen die Mädchen und ihre Burschen in weißen Segelkostümen neben den alten Amerikanerinnen. Im Garten des Hotels „Baur au Lac” schmachtete die Zigeunerkapelle ihre Nachmittags-Musik; auf dem Parade-Platz klingelten munter die hübsch blau lackierten Trambahnwagen; die großen Limousinen aber glitten in vornehmer Stille über die Avenuen, Plätze, Brücken und Quais; denn: „in Zürich wird nicht gehupt, aber vorsichtig gefahren”–: wie breite Spruchbänder an den Stadteingängen und an einigen Verkehrszentren mahnend verkündeten. Auf die Nerven des Publikums wurde jede erdenkliche Rücksicht genommen …
Liebenswürdig stand der Sommer dieser schönen Stadt zu Gesichte, wie einer hübschen Frau das lichte Kostüm, der breitrandige Strohhut stehen. Die Luft war mild und sehr weich; man meinte sie wie eine Liebkosung auf der Haut zu spüren. Die Konturen der Seeufer verschwammen in einem zart-blauen, fast violetten Dunst. Es herrschte Föhnstimmung. Der warme Wind kam vom Gebirge her. Frau von Kammer hatte ein wenig Kopfschmerzen. Sie konnte den Föhn nicht vertragen.
Seit gestern hatte sie mit niemandem gesprochen, außer ein paar Worte mit dem Mädchen, das vormittags kam, um die Wohnung sauber zu machen. Tilly war verreist: „Ein paar Bekannte” – wie sie sich mit etwas verletzender Ungenauigkeit ausdrückte – hatten sie zu einer Tour eingeladen. Nach dem einsamen Abendessen spazierte Frau von Kammer ziellos durch die Straßen: über den Parade-Platz, die Bahnhofstraße hinunter bis zum Bahnhof; die Bahnhofstraße wieder hinauf bis zum See; über die Quaibrücke bis zum Bellevueplatz. Sie überlegte, ob sie in ein Kino gehen sollte; aber das würde ihre Kopfschmerzen nur noch verschlimmern.
Auf dem Platz vor dem Stadttheater hatte sich ein Lunapark etabliert; ein Miniatur-Prater mit „Attraktionen”, Karussels, einer Bierhalle, Russischem Rad, Achterbahnen, Würstelverkäufern und Schießbuden. Von dort her kam der schöne, erregende Lärm, der immer zu den Rummelplätzen zieht: das Kreischen der Kinder und Frauen von all den schaukelnden, fliegenden, kreisenden, durch Finsternis gleitenden, ins Wasser stürzenden Folterstühlen, auf denen merkwürdigerweise Menschen sich freiwillig und zum Vergnügen niederlassen; die monoton-eindringliche Litanei der Ausrufer und Anpreiser, das Geknatter der Schießgewehre, der gröhlende Chorgesang der Bezechten; die Musik von drei Karussels, unbarmherzig gegen einander ankämpfend. Es kamen auch die unverkennbaren und unwiderstehlichen Rummelplatz-Gerüche: Schmalzgebackenes, Türkischer Honig, Schweiß, Brathuhn, Schießpulver, scharfes Parfüm des Zirkus, Erbrochenes, kleine Kinder, Bier, noch einmal Türkischer Honig –; und es kam, mit Geräuschen, Gerüchen und flirrenden Lichteffekten, der ganze Zauber, den diese Stätten auf den Einfachsten wie auf den Verwöhntesten üben.
Vor dem Russischen Rad war das Gedränge am dichtesten. Marie-Luise floh in eine Nebengasse des Barackendorfes, fand sich vor einer Bude und dachte: Ich kann eben so gut eintreten und die Attraktionen besichtigen. Hier gibt es zu sehen den ‚größten Menschen der Erde’, ‚den finnischen Goliath’ – warum denn nicht, es kostet nur fünfzehn Rappen.
Drinnen herrschte feierliches Halbdunkel. Es befanden sich nur wenig Menschen in dem scheunenartig weiten Raum. Die Stille hier war erstaunlich; eine verwesende Samtportière schien, mit beinah magischer Kraft, jeden Laut von draußen fern zu halten. Die Augen der Besucherin mußten sich erst an das rötliche Dämmerlicht gewöhnen. Nicht ohne Mühe tappte sie sich zu den schmalen, lehnenlosen Bänken. Marie-Luise glaubte zu bemerken, daß außer ihr nur noch zwei Kinder anwesend waren, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen; sie saßen eng aneinander gerückt und hielten sich an den Händen gefaßt. Ihre Münder waren weit geöffnet wie ihre Augen. Sie sahen gar nicht belustigt aus, sondern eher verängstigt.
In der Tat gab es Anlaß genug, sich zu fürchten. Das Erschreckende an dem jungen Mann, der vor dem öden Scheunen-Parkett auf dem Podium stand, war nicht so sehr seine schier unglaubliche Körperlänge, als die unbeschreibliche, ungeheure, wahrhaft bestürzende Traurigkeit seines Gesichtes. Es war eine sehr runde, sehr kleine, rote, babyhaft verhutzelte, von zahllosen Fältchen melancholisch durchzogene Miene: Marie-Luise meinte noch nie so eine hoffnungslos verzagte gesehen zu haben. Über dem leer-verzweifelten Blick waren die gewölbten Brauen drollig mit