„Und du?” erkundigte sie sich dann. „Wir reden ja nur von mir, das ist langweilig. Warum bist du denn eigentlich von Deutschland weg, du, mit deiner garantiert reinen Rasse?”
Marie-Luise schwieg ein paar Sekunden lang, als müßte sie sich erst besinnen, warum sie eigentlich von Deutschland fort war. Schließlich sagte sie nur: „Das war doch ganz selbstverständlich. Ich bin die Frau eines Juden gewesen. – Und glaubst du denn, daß ich mich von meinen erwachsenen Töchtern verachten lassen wollte?” – Sie erschrak sofort selber ein wenig darüber, daß sie diesen Satz ausgesprochen hatte. Er war aufrichtiger, als sie jemals zu reden – und als sie meistens zu denken wagte. Tilla hatte ein zweites Glas Portwein für sie bestellt. Frau von Kammer, an Alkohol nicht gewöhnt, spürte die Wirkung.
‚Wie wunderbar hochmütig sie jetzt aussieht!’ – fand ihre Freundin. ‚Genau dieses Gesicht hat sie als junges Mädchen gemacht, wenn eine Lehrerin oder Kameradin sie geärgert hatte und sie mit ihrem vernichtenden Achselzucken zu sagen schien: Was könnt ihr mir anhaben? Was soll ich mich mit euch abgeben? Ich bin die Baroness von Seydewitz!’
„Du mußt mir von deinen Töchtern erzählen”, bat die Schauspielerin. „Marion ist doch sicher schon eine große Dame. Und wie heißt die Zweite?” „Tilly”, sagte Marie-Luise. „Ja, mein guter Alfred mochte den Namen, und mir machte es Freude, sie nach dir zu nennen.” – „Hoffentlich bringt es ihr Glück”, sagte Frau Tibori, plötzlich merkwürdig ernst, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Nach einer Pause war es Marie-Luise, die wieder zu sprechen begann. „Haben wir uns denn gar nicht mehr gesehen und nicht einmal korrespondiert, seit Tilly geboren ist?” Beide waren erstaunt, auch beschämt. „Jetzt wird das anders”, versprachen sie sich. „Mein Gott, was muß erst alles passieren, damit zwei alte Dinger wie wir – die wir doch wahrhaftig mal zueinander gehört haben – sich wieder finden!”
„Nächstens werde ich dir meine Tilly vorstellen”, verhieß Marie-Luise. „Ein famoses Mädel. Sie ist gerade für ein paar Tage in Arosa, mit Freunden.”
Tilly war keineswegs nach Arosa gefahren, vielmehr nach Berlin. Ihre Unruhe, ihre Angst um Konni waren übermäßig groß geworden; es kam keine Nachricht von ihm, sie wußte nicht, wo er war, nicht einmal, ob er noch lebte; dies war nicht auszuhalten, keine Folter konnte ärger sein. Den Warnungen ihrer neuen Züricher Freunde zum Trotz, entschloß sie sich zu der Reise.
Es war merkwürdig, am Anhalter Bahnhof anzukommen; den Potsdamer Platz wieder zu sehen, die Tiergarten-Straße, den Kurfürstendamm. Tilly ward das Gefühl nicht los, daß sie träume. Vielleicht, weil sie in so vielen Nächten während der letzten Wochen von all dem geträumt hatte. Wie fremd – wie vertraut schaute die Gedächtniskirche sie an! Das Warenhaus „Kadewe” am Wittenbergplatz, die Kinos und Cafés der Tauentzienstraße, die staubigen Bäume wie traum-fremd, wie traumvertraut! Sie war kaum vier Monate fort gewesen, es hatte sich nichts verändert. – Es hatte sich alles verändert. Sogar der Himmel über Berlin sah anders aus als früher; er war glasig erstarrt – schien es Tilly – und er schickte ein fahles Licht.
Ihr Aufenthalt war kurz und übrigens völlig ergebnislos. Sie logierte bei einer Freundin, die ihrerseits in Beziehung zu den Genossen stand. Mit diesen traf sich Tilly, an dritter Stelle, nachts, unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. Einen der jungen Männer hatte sie schon früher durch Konni kennen gelernt: er war Student der Philosophie und trug eine große Hornbrille im kindlich weichen, rosigen Vollmondgesicht. Der andere schien ein strebsamer, gescheiter Proletarier zu sein; der Anzug kleinbürgerlich-korrekt; die Miene von einem verbissenen, fast drohenden Ernst. Sie stellten sich als Fritz und Willy vor, sprachen mit gedämpften Stimmen – obwohl man sich in einer leeren, vielfach verschlossenen, isoliert gelegenen Wohnung befand –, und hatten die nervöse Gewohnheit, ständig um sich zu blicken, zuweilen, mitten im Satze, jäh aufzuspringen und zur Tür zu eilen, um festzustellen, ob sich hinter ihr jemand verbarg.
Von ihnen erfuhr Tilly, daß Konni sich im Konzentrationslager Oranienburg befinde; der Student mit dem runden Gesicht hatte ihn einmal besuchen können und versicherte: „Es geht ihm leidlich. Man hat ihn verhältnismäßig wenig geprügelt.” – „Verhältnismäßig wenig wiederholte Tilly und schüttelte langsam den Kopf. „Es ist unfaßbar … unfaßbar …” Sie sagte es mit einer ganz leisen Stimme. Dann fragte sie schüchtern: „Wie lange, glauben Sie, wird man ihn dort behalten?” Die jungen Männer, die sich Fritz und Willy nannten, sahen sich an und hatten beide ein kaum merkbares Lächeln, das gutmütigen Spott und etwas Bitterkeit ausdrückte. Endlich sagte der Proletarische: „Wenn man das wüßte …”
Es gab ein Schweigen. Endlich stand Tilly auf, machte ein paar Schritte durchs Zimmer, und erklärte: „Ich muß ihn sehen.” Da erwiderten die Beiden, wie aus einem Munde:
„Das geht nicht.”
Sie könne ihren Konni keinesfalls besuchen –, setzten sie der armen Tilly auseinander. Sie sei der Gestapo sehr wohl bekannt; sei denunziert worden; man argwöhne, daß sie bei der Sache mit den Flugblättern im Universitätsgebäude mitgemacht habe. Tilly warf ein: „Das ist aber Unsinn!” Und der Philosophie-Student: „Darauf kommt es nicht an. – Ich gebe Ihnen den Rat: Hauen Sie ab! Fahren Sie möglichst schnell dorthin, woher Sie gekommen sind!” Es klang barsch, beinah unfreundlich. „Hier können Sie nichts nützen, nur schaden. Die illegale Arbeit ist nicht jedermanns Sache; dazu braucht man mehr als die rechte Gesinnung, und sogar mehr als nur Courage; nämlich: Erfahrung; Training – wie zu einem Sport.” Versöhnlicher fügte er hinzu, da er das Mädchen mit den Tränen kämpfen sah: „Wenn ich den Konni wieder mal sehen sollte, werde ich ihm erzählen, daß Sie hier gewesen sind; daß Sie an ihn denken. – Vielleicht lassen sie ihn doch bald raus …”, sagte er tröstlich, gerührt durch den Anblick von Tillys zitterndem Kinn und ihren Augen, die naß wurden. –
Frau von Kammer wunderte sich darüber, daß ihre Tochter durchaus nicht braungebrannt und frisch, vielmehr recht blaß und erschöpft von ihrem Ausflug zurück kam. – Tilly berichtete dem H. S., nach Prag, über ihre mißglückte Reise. „Du hast also recht gehabt,” – da er sie in allen seinen Briefen „Du” nannte, hätte sie es unhöflich gefunden, ihn mit „Sie” anzureden –, „es war sinnlos. Ich habe den Konni nicht sehen können. Die Nazis zeigen ihre Opfer nicht her. Berlin hat sich schrecklich verändert. Ich war nur drei Tage dort und habe fast die ganze Zeit geweint.”
Während sie das Briefcouvert schloß, dachte sie – zum wievielten Male?–: ‚Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieser H. S.? Ist er groß oder klein? Blond oder schwarz? Wie heißt er? Ist er ein intimer Freund von Konni?’
‚Was mag das wohl für ein Mensch sein, dieses Mädchen?’ dachte Hans Schütte. Er wohnte mit seinem Freund Ernst zusammen in einem recht engen Zimmer. Das Zimmer kostete 120 Tschechenkronen im Monat. Es lag unbequem, etwas außerhalb der Stadt, in Koširše. Man brauchte vom Zentrum aus zwanzig Minuten mit der Trambahn. Die Trambahn fuhr eine trostlos lange Vorstadtstraße hinunter: die Pilsener-Straße. Hans und Ernst lernten es allmählich, auch ihren tschechischen Namen auszusprechen; er lautete: Plzenskă.
Hans