Wenn sie, in solchem Zusammenhang, von „meinen Mädels” sprach, machte sie sich einer Übertreibung schuldig, denn wirklich konnte es sich nur um Tilly, die Neunzehnjährige, handeln. Susanne war erst dreizehn Jahre alt und sollte in einem Schweizer Pensionat „für junge Mädchen aus ersten Familien” untergebracht werden. Das Institut war entschieden zu teuer für die finanziellen Verhältnisse der Geheimrätin. „Aber es muß eben reichen!” erklärte die Mutter, fanatisch in ihrer Zärtlichkeit zu dem hochaufgeschossenen, etwas mürrischen Backfisch, wie in ihrem unbedingten Entschluß, sich sozial nicht degradieren zu lassen.
Marion blieb in Paris. Einige Tage nach ihrer Ankunft in Zürich hatte die Mutter, „mit Voranmeldung für Mademoiselle von Kammer”, das Hotel „National”, Paris, rue Jacob, angerufen. „Ich bin froh, deine Stimme zu hören, mein Kind!” sagte sie, und der Klang ihrer Worte war wärmer und belebter als meistens. – „Wie geht es dir denn, Mama?” fragte Marion, glücklich über die ungewohnt einfache, herzliche Art der Mutter. – „Danke, mein Kind: leidlich gut.” Nun hatte sie schon wieder jene damenhafte Verbindlichkeit, unter der Marion heftiger litt als andere Töchter unter den Wutausbrüchen ihrer Mutter. – „Du weißt ja: das Züricher Klima ist eine Wohltat für meine Nerven – natürlich nur so lange es keinen Föhn gibt …” Sie redete, als wäre sie soeben in Baden-Baden oder Bad Gastein eingetroffen und berichtete nun einer entfernten Bekannten über die ersten Erfolge der Kur. Es war der Ehrgeiz der Frau von Kammer, Haltung zu bewahren, auch der Tochter gegenüber –: Haltung um jeden Preis, den Verhältnissen zum Trotz, malgré tout, geschehe, was auch immer.
Das Telephongespräch zwischen Paris und Zürich dauerte nicht sehr lange. Mama berichtete noch, daß sie, mit Tilly und der kleinen Susanne, vorläufig in einem sehr hübschen Hotel am See abgestiegen sei. „Sehr soigniert”, sagte sie anerkennend. „Die Bedienung – tip-top! Aber es ist natürlich nur provisorisch. Auf die Dauer könnte man sich das nicht leisten.”
„Es ist schrecklich traurig”, sagte Marion, nachdem sie eingehängt hatte, zu Martin Korella, der gerade bei ihr im Zimmer war. „Sie kann es einfach nicht zeigen, wie nett sie ist. Hinter ihrer blöden ‚feinen’ Art versteckt sich ihre ganze große Nettigkeit.” Marion sah bekümmert aus. Mit ihren schönen und langen Fingern – den kraftvoll trainierten Fingern einer Pianistin, mußte Martin denken; oder, nein: eigentlich einer Bildhauerin – zerdrückte sie im Aschenbecher eine Zigarette, die sie gerade erst angeraucht hatte. Dabei stieß sie den Aschenbecher – es war eine jener häßlichen, weißen kleinen Schalen, mit dem Reklame-Aufdruck der „Galeries Lafayette” – vom Tisch; mit zornig verfinsterten Augen schaute sie auf Zigarettenstummel und Asche, die nun den Teppich verunzierten. „Dabei ist sie nämlich wirklich ganz besonders nett”, behauptete sie mit einer tiefen, grollenden Stimme und schüttelte – einer gereizten Löwin ähnlich – die lockere Fülle ihres rot-braunen, purpurn schimmernden Haares.– „Zum Beispiel war es doch ganz großartig von ihr, wie sie sich während dieser letzten Wochen benommen hat”, sagte Marion noch, trotzig und aufgebracht, als hätte jemand ihr widersprochen – während Martin doch nur liebenswürdig und etwas schläfrig lächelte. „Längst nicht jede alte Dame bringt es fertig, sich so prima zu halten; die meisten hängen viel zu sehr an ihrer Tischwäsche oder an einer bestimmten Friseuse, um die freiwillige Emigration auch nur zu erwägen. Und für die geborene von Seydewitz sollte es im Nationalsozialismus eigentlich verschiedene Elemente geben, die ihr gar nicht übel gefallen: stramme Haltung, nationales Gefühl, und all so’n Zeug … Aber nein: die geborene von Seydewitz überlegt sichs erst gar nicht lange. In ihrer ulkigen Ausdrucksweise konstatiert sie: Die Nazis sind schlechte Klasse – womit sie freilich auf eine etwas andere Art recht hat, als sie selber meint. Damit ist für sie alles erledigt. Ihr Instinkt hat gespürt: Was jetzt in Deutschland regiert, das ist Dreck. Und sie packt ihre sieben Sachen …”
„Vielleicht”, gab Martin zu bedenken – jedes seiner Worte mit einer selbstgefälligen Langsamkeit schleppend –, „vielleicht ist diese brave Attitüde durch den schönen Einfluß einer gewissen Tochter zu erklären …”
„Vielleicht. Bis zum gewissen Grade.” Marion biß sich in die Knöchel der geballten Faust, wie es ihre Angewohnheit war, wenn sie konzentriert nachdachte. „Aber mein Einfluß” – beschloß sie – „hat gewiß keine entscheidende Rolle gespielt. Die Seydewitz konnte ja gar nicht anders handeln, als sie es getan hat!” Dabei schüttelte sie, wie triumphierend, wieder das prachtvolle Purpur-Gelock. Martin lächelte, sphinxhaft, zärtlich und verschlafen. –
In der Tat: Frau von Kammer, die geborene Baronesse von Seydewitz, konnte gar nicht anders, als sich mit gelassener, hochmütiger Unbedingtheit gegen das suspekte Phänomen des Nationalsozialismus zu stellen. In allen politischen Dingen war sie vollkommen ahnungslos; aber für den neu-deutschen „Erlöser” und seinen Anhang hatte sie nur das angewiderte Achselzucken, mit dem sie einen schlecht gebauten alten Klepper abgelehnt hätte, den man ihr als Rennpferd anzubieten wagte. Ihr Instinkt für biologische Werte – viel schärfer entwickelt als ihr Gefühl fürs Moralische – bewahrte sie davor, auf die Tricks der Demagogen auch nur eine Sekunde lang herein zu fallen. Hinzu kam ihr höchst empfindliches Gefühl für die Würde ihrer Familie, das durch die neue Staats-Religion verletzt wurde.
Denn das Rassen-Dogma beleidigte das Andenken ihres verstorbenen Gatten. Der Geheimrat von Kammer war Jude gewesen; seine Töchter galten, nach neuester deutscher Auffassung, als „Nichtarierinnen”. Den Adelstitel hatte der Geheimrat von seinem Vater, einem einflußreichen Bankier, geerbt. Seit einem halben Jahrhundert unterhielt die Frankfurter jüdische Patrizier-Familie gute Beziehungen zur Aristokratie und sogar zum Kaiserlichen Hof. Marie-Luisens seliger Gatte, Alfred von Kammer – Internist von internationalem Ruf, Chef eines großen Berliner Krankenhauses – hatte das Faktum seiner jüdischen Herkunft niemals verleugnet, sondern es eher, auf seine unpathetische, jovial-scherzhafte Art, zu betonen geliebt. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als Marie-Luise, deren Vater, dem General, er die letzten Lebensstunden zwar nicht wesentlich verlängert, aber durch klug gewählte Tropfen und Injektionen doch ein wenig erleichtert hatte.
Familie von Seydewitz lebte in Hannover und hatte kein Geld. Der General war stockkonservativ; verachtete aber die meisten seiner Standesgenossen – wegen ihrer Unbildung und kulturellen Zurückgebliebenheit – womöglich noch mehr als die grauenhaften Sozialdemokraten. Abends, bei der Lampe, las er seiner Frau und den Töchtern aus den Schriften von Goethe, Stendhal, Lord Byron und Theodor Fontane vor. Als er krank ward, bestand er darauf, daß man den berühmten jüdischen Spezialisten rief. Professor von Kammer verliebte sich prompt in das spröde, arme, hochmütige und sehr hübsche Fräulein von Seydewitz. Während einer beinah zwanzigjährigen Ehe wurde er sich niemals darüber klar, ob sie ihn wiederliebte, oder je wiedergeliebt hatte. Vielleicht hatte die kleine Baronesse ihn nur geheiratet, weil er eine gute Partie war. Das Problem – ob Marie-Luise ihn liebte – beschäftigte den großen Arzt zwei Jahrzehnte lang. Als er sich zum Sterben niederlegte, zeigte sie ihm, zum ersten Mal, eine heftige, bewegte Zärtlichkeit. Die Gebärde, mit der sie sich über sein Lager warf, hatte eine Vehemenz, die den Geheimrat an seiner reservierten Gattin verblüffte. „Bitte, bitte – stirb nicht!” flehte Maria-Luise – schamlos, fassungslos in ihrer Angst. Wovor fürchtete sich denn die geborene von Seydewitz? Sie gestand es selbst; denn sie schrie: „Dann wäre ich ganz allein!” Der Geheimrat starb aber doch. Das war im Jahre 1925.
Herr von Kammer hatte schon am 9. November 1918 beschlossen, nun wolle er nicht mehr lang leben. Die Niederlage des Reiches, der Zusammenbruch der Monarchie hatten ihn psychisch und physisch erledigt – übrigens auch finanziell. Er war ein glühender Patriot und fanatischer Anhänger des Hauses Hohenzollern – während Marie-Luise, was vaterländische Gefühle betraf, sich zwar korrekt aber eher kühl verhielt und die Kaiserliche Familie sogar ein wenig verachtete.
Der Geheimrat hinterließ seiner Witwe ein nur geringes Vermögen; den größten Teil seiner stattlichen Guthaben hatte er in Kriegsanleihe investiert – und also verloren. Der immer noch beträchtliche Rest zerschmolz ihm während