An diesem Abend besuchte Martin allein eine Music-Hall im Faubourg Montmartre. Dort trat ein Clown auf, über den er sich früher einmal in Berlin amüsiert hatte. Er versprach sich eine Zerstreuung davon, ihn wieder zu sehen. Aber das Programm langweilte ihn. Der berühmte Komiker sollte erst nach der Pause erscheinen. Martin hatte sich eine billige Karte genommen, die ihn nur zum Aufenthalt im „Promenoir”, dem Steh-Parterre, berechtigte. Die Luft dort war heiß und stickig. Martin fühlte sich müde und angewidert. Im Zwischenakt trank er einen doppelten Cognac am Buffet. Dann verließ er das Theater und ging zum Boulevard Clichy hinauf.
Er trank noch mehrere Cognacs in mehreren kleinen Bars, und schließlich blieb er in einem stillen Café, nahe der Place Blanche, sitzen. Er bestellte sich einen Pernod Fils; dann noch einen. Der Kopf wurde ihm ziemlich schwer. ‚Hier ist es relativ angenehm’, dachte er und legte die heiße Stirn in die Hände. ‚Hier bleibe ich eine Weile. Wenn ich sehr spät nach Hause komme und ziemlich viel Pernod getrunken habe, werde ich vielleicht schlafen können.’
Es gab fast keine Gäste im Lokal. Das elektrische Klavier spielte die Ungarische Rhapsodie von Liszt. Der Barmixer – ein sehr magerer, bleicher Bursche mit tiefen Schatten um die trostlos blickenden Augen – unterhielt sich, über die Theke weg, mit einem Mann, der Martin den Rücken zudrehte. Es kam dem Einsamen vor, als ob die beiden über ihn sprächen. Der Mixer schaute mehrfach zu ihm hin, und der Mann an der Bar drehte sich einmal um, um ihn schnell und scharf zu fixieren. Aber Martin war nicht neugierig auf die Geheimnisse der Zwei. ‚Vielleicht überlegen sie sich, ob sie mir ein Mädchen verkaufen können’, dachte er verächtlich. ‚Wahrscheinlich die dicke Alte, die dort drüben in der Ecke schlummert.’ Er schloß die Augen. ‚Diese Ungarische Rhapsodie ist ein hundsordinäres, aber immer wieder effektvolles Stück. Komisch, wie mich das rührt … Jetzt könnte ich weinen. Aber das wäre ein zu idiotisches Benehmen: einsam in einer kleinen Montmartre-Bar sitzen, diese gemeine Musik hören und Tränen vergießen … Wenn ich nur Kikjous Adresse wüßte, dann könnte ich ihm gleich ein paar Zeilen schreiben – das wäre jetzt die beste Beschäftigung … Seine Geheimnistuerei mit dem katholischen Onkel ist etwas kindisch … Ob er wirklich an den lieben Gott glaubt? … Alter Herr Korella wurde immer ein bißchen gereizt, wenn Mama den lieben Gott erwähnte. Liebe Hedwig, sagte er, der Junge ist wirklich schon zu groß, um ihm Ammenmärchen zu erzählen. Du weißt doch, ich mag das nicht. – Ein sehr aufgeklärter Mann!’ Martin kicherte höhnisch in sich hinein. ‚Alter Herr Korella ist Freidenker. Das hat auch etwas Drolliges. Schade, jetzt ist die Rhapsodie zu Ende. Die alte Hure dort drüben schnarcht aber wie drei besoffene Kutscher. Ich sollte mir noch einen Pernod kommen lassen. Der Mixer hat seltsame Augen. Es muß ja auch melancholisch stimmen, die ganze Nacht hier zu sitzen. Wahrscheinlich schläft er tagsüber. Martin, es ist ungesund, tags im Bett zu liegen –, hat alte Frau Korella mir oft versichert. Wieso eigentlich? … Ob meine alten Herrschaften sehr unter diesen Nazis zu leiden haben? Papa ist ein so guter Patriot. Als ich abreiste, hat Mama mir gesagt: Wir haben nichts zu fürchten, mein Sohn. Unser Gewissen ist rein. Rührende alte Frau! Vielleicht werde ich sie nie wieder sehen; das würde mir doch leid tun, ganz entschieden.’ – „Garçon, un autre Pernod, s’il vous plaît!” rief Martin und schlug die Augen auf. Da bemerkte er, daß der Mann, der sich vorhin nach ihm umgedreht hatte, neben ihm am Tische saß. – „Bon soir, Monsieur”, sagte der Mann.
Er sah sehr ramponiert aus und war wohl noch ziemlich jung. Sein gedunsenes, schlaffes Gesicht zeigte grau-weiße Färbung. Die Pupillen in den nah beieinander liegenden, dunklen und engen Augen waren auffallend klein: glitzernde schwarze Punkte, winziger als ein Stecknadelkopf. „Bon soir, Monsieur”, sagte auch Martin, und er dachte: ‚Wieso habe ich ihn nicht gehört, als er an den Tisch kam? – Mein Gott, der Mensch will sich mit mir unterhalten! Das hat mir gerade noch gefehlt!’
Wirklich begann der andere eine Konversation über gleichgültige Gegenstände. Er sprach über das Wetter, die Fremdensaison, die Kriegsgefahr und die hohen Preise. Martin antwortete, so gut er konnte, in seinem noch recht ungewandten, stockenden Französisch. ‚Worauf will er hinaus?’ überlegte er sich. ‚Der führt doch irgend etwas im Schilde …’ – Sein Nachbar hatte eine merkwürdig prüfende, fast lauernde Art, ihn zu beobachten. Zuweilen lächelte er, plötzlich und überraschend, als wollte er sagen: ‚Wozu machen wir uns gegenseitig etwas vor, lieber Freund? Es wird allmählich Zeit, daß wir zur Sache kommen!’ – ‚Zu welcher Sache?’ erwiderte Martin ihm stumm, nur durch Blicke. ‚Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie meinen, mein verehrter, ungesund aussehender Monsieur.’
Es gab im sinnlosen Gespräch eine Pause. Nach dem kleinen Schweigen erkundigte sich der Fremde, bedeutungsvoll grinsend: „Schmecken Ihnen die Drinks?”
„Ja – warum?” machte Martin erstaunt. „Es ist guter Pernod.”
„Sie sehen nicht wie ein Alkoholiker aus”, sagte der Mann.
„Es kommt auch ziemlich selten vor, daß ich trinke”, sagte Martin.
„Ach so”, nickte der Mann. Und, nach einer Pause, besonders hinterhältig: „Wahrscheinlich haben Sie gerade nichts – anderes?”
Martin deutete durch erstauntes Achselzucken an, daß er nicht begriff. Der andere, statt sich zu erklären, fragte nebenbei: „Wer hat Ihnen denn diese Adresse empfohlen?”
Welche Adresse? – wollte Martin wissen. „Ich bin zufällig hierher gekommen.”
„So so”, sagte der Fremde. „Da haben Sie Glück gehabt. Sie sind an der richtigen Stelle.”
Nun begann Martin sich zu interessieren. An was für einer Stelle denn? – fragte er gierig.
„Stellen Sie sich nicht dumm!” bat ihn der Bleiche, nun seinerseits etwas enerviert und gelangweilt. „Ich weiß doch, worauf Sie aus sind. Ich habe Blick für sowas.”
Und er flüsterte heiser, den Oberkörper vorgeneigt, das fahle dicke Gesicht mit den brennenden kleinen Augen unheimlich in Martins Nähe gerückt: „Ich bin Pépé.”
„Sehr erfreut”, sagte Martin. „Mein Name ist Fritz Meier.”
„Haben Sie noch nie von mir gehört?” Pépé schien enttäuscht. „Es ist ein Vertrauensbeweis, daß ich mich vorgestellt habe. Aber mein Instinkt trügt mich nie. Sowie ich Sie gesehen habe, wußte ich: Das wird ein Kunde für mich.”
„Was verkaufen Sie denn?” – Martin fing an, zu verstehen.
Pépé lachte wie bei einem guten Witz. Nachdem er sich genug amüsiert hatte, erklärte er, wieder ernst: „Ich habe eine ganz neue Sendung. Prima Ware. Heute erst aus Marseille gekommen.”
„Was ist es denn?” forschte Martin.
Pépé rückte noch näher an ihn heran. „Sie meinen – K. oder H.?” fragte er, anzüglich grinsend.
Martin erkundigte sich naiv: „Was ist das, – K. oder