Der Vulkan. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066384098
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werden! Die Polizei ist überall hinter uns her. Gestern ist wieder eine Razzia gewesen. Kommen Sie mal mit mir auf die Toilette!”

      Er erhob sich und schlenderte zu der Türe, wo „Messieurs” stand. Martin zögerte eine Minute, ehe er folgte.

      Es war eine recht primitiv eingerichtete Lokalität. Nicht einmal eine Sitzgelegenheit gab es; sondern, neben dem Abtritt, nur zwei Stützpunkte für die Füße. Übrigens roch es garstig.

      Pépé hatte schon die Brieftasche gezogen. Er entnahm ihr ein Päckchen aus starkem, roten Papier. „Eine Qualität wie für Prinzen!” verhieß er noch, ehe er das Päckchen öffnete, und küßte sich, selbst entzückt von der Feinheit dessen, was er zu bieten hatte, die Fingerspitzen. „Schauen Sie mal, wie das funkelt! Wie lauter kleine Kristalle!” – Martin blickte neugierig hin; was er in der kleinen roten Hülle entdeckte, war ein grauweißes Pulver. „Es sind drei gute Gramm”, erklärte Pépé und wog seinen leichten Schatz liebevoll auf der Handfläche. „Ich lasse es Ihnen für 200 Francs.”

      Martin, seinerseits ziemlich heiser flüsternd, brachte hervor: „Ich weiß aber gar nicht – ob ich Kokain überhaupt mag …” Und war doch schon fast entschlossen, dem verdächtigen Gesellen sein Zeug jedenfalls abzukaufen.

      „Dummerchen!” Pépé sagte es beinah zärtlich, mit den gedunsenen, fahlen Lippen nah an Martins Ohr. „Ich sehe doch, daß du kein Typ für Koks bist. Koks ist eine Droge für kleine Huren. Du hast ein Gesicht wie ein Philosoph. – Es ist Heroin, feinste Sorte!” Martin spürte seinen Atem an der Wange; er ekelte sich, wandte sich aber nicht ab. „Wenn du mir nicht so sympathisch wärst”, raunte der Händler, „würdest du das gute Zeug gar nicht kriegen! Hast du denn eine Vorstellung, was ich riskiere, indem ich dir sowas anbiete? – Aber ich kenne dich, ich kenne dich schon … Du bist ein feiner Kerl, du hast Weltschmerz, vielleicht ist eine Geliebte dir weggelaufen, da brauchst du ein bißchen Trost. Der Pernod genügt dir nicht, du mußt etwas Besseres haben. Da ist etwas Besseres … Da flüsterte er verlockend. „Ich lasse es dir, für nur 200 Francs, weil ich weiß: du wirst ein guter Kunde von mir. Du kommst wieder, und oft – da habe ich gar keine Zweifel …” Pépé legte ihm einen schweren, weichen Arm um die Schulter. Martin spürte, daß ihm gleich übel werden würde: vom Gestank des Aborts und von der Nähe dieses Menschen.

      „Gut. Ich nehme es”, sagte er mühsam und langte schon nach dem Geld. Dann zögerte er noch einmal: „Wie konsumiert man solches Zeug eigentlich?”

      „Mach nur schnell, nimm endlich das Päckchen”, drängte Pépé. Er schien weniger gierig danach, das Geld zwischen seinen Fingern zu spüren, als er drauf aus war, das Pülverchen in der Hand seines Kunden zu sehen. ‚Er ist wie der Satan’, mußte Martin plötzlich denken. ‚Wie der Teufel, der es nicht erwarten kann, die Bluts-Unterschrift seines Opfers unter dem verhängnisvollen Vertrag zu haben …’

      „Auf welche Art man es konsumiert?” kicherte der Böse. „Ganz wies beliebt, Herzchen, ganz wie es dir Spaß macht, du wirst’s schon noch lernen – wenn du es wirklich noch nicht weißt. Du kannst es durch die Nase hochziehen: so!” Er nahm eine kleine Prise auf den Handrücken und schnupfte sie mit Genuß. „Oder du kannst es in Wasser auflösen und dir einspritzen. Darauf kommst du bald genug, mein Schatz!”

      Martins Hände zitterten, als er die Fünfzig-Francs-Scheine hinzählte und das Päckchen zu sich steckte. Pépé ließ ihn noch wissen: „Mich findest du immer hier, das ist mein Stammlokal. Mittags zwischen elf und zwölf, und abends ab zehn Uhr kannst du mich garnicht verfehlen – solange ich die Adresse nicht aus Vorsichtsgründen ändere. – Au plaisir, mon vieux, à bientôt. Ich bleibe noch einen Moment auf dem Lokus.”

      Martin kam leicht taumelnd in die Bar zurück.

      „Ich zahle zwei Pernods Fils”, sagte er zum Mixer, und versuchte, sich ein würdig unbefangenes Aussehen zu geben. Der Bursche musterte ihn mit einem Lächeln, das höhnisch aber nicht ohne eine gewisse gutmütige Mitleidigkeit war, von oben bis unten. „Sonst zahlen Sie nichts?” fragte er. Jetzt fiel es Martin auf, daß auch der Mixer in seinen dunklen, hungrigen Augen die winzig kleinen, stechenden, Pupillen hatte. –

      Martin nahm sich ein Taxi an der Place Blanche und ließ sich zum Hotel „National”, rue Jacob, fahren.

      In seinem Zimmer zog er das Päckchen aus der Tasche, ehe er noch seinen Hut abgelegt hatte. Das dunkelrote, starke Papier war kunstvoll zusammen gelegt; kein Stäubchen des Pulvers konnte verloren gehen. Martin schüttete sich ein wenig von der weißlichen Substanz auf den Handrücken, wie er es Pépé hatte machen sehen. Er trat vor den Spiegel, führte die Hand vorsichtig zur Nase und zog das Pulver hoch. Es kitzelte in der Nase, reizte die Schleimhäute und ließ die Augen feucht werden. Gleichzeitig spürte er einen bitteren Geschmack, hinten am Gaumen und in der Kehle. ‚Wahrscheinlich ist das Ganze ein Schwindel’, dachte er ärgerlich. ‚Ich bin irgend einem kleinen Halunken hereingefallen, und meine 200 Francs bin ich los …’

      Er setzte sich aufs Bett und wartete. Würde sein Zustand sich ändern? ‚Ich verlange ja gar kein Glück’, dachte er, ‚ich beanspruche keine plötzlichen Wonnen. Was ich möchte, ist nur ein wenig Erleichterung. Daß diese Last weg wär von meiner Brust! Daß diese fürchterliche Spannung sich löste! Daß ich ruhig würde! Mehr erhoffe ich nicht …’

      Und während er es dachte, war er schon ruhig geworden. Das Wohlgefühl, das sich einstellte, war unbeschreiblich. Es enthielt Frieden und eine schöne Erregung zugleich. Es war Entrückung und gesteigertes Leben. Übrigens brachte es auch etwas physische Übelkeit und leichten Brechreiz mit sich. Aber das störte kaum. Die Annehmlichkeit war zu groß. ‚Welch magische Pulver-Substanz hat dieser Pépé mir da für 200 Francs kredenzt!’ dachte Martin benommen. ‚So wohlig war mir nicht mehr zu Mute – seit wann? Seit mir der Onkel Doktor Injektionen gegen Nieren-Kolik verabreichte. Seit damals habe ich soviel Wohligkeit nicht gekannt … Jetzt möchte ich arbeiten … Ich habe unendlich zahlreiche und sehr gute Gedanken im Kopf … Ich werde mich nicht an den Tisch setzen, davon würde mir schlecht. Ich hole mir den Schreibblock ans Bett …”

      Nicht umsonst, nicht zufälliger oder ungerechtfertigter Weise haben die Deutschen den Ruf, das gründlichste Volk der Erde zu sein. Ihre Emigration dauerte erst ein paar Monate lang, sie hatte gerade begonnen; es ließ sich noch gar nicht absehen, welchen Umfang sie annehmen, welche Kreise und Typen sie in sich einbeziehen würde –: da gingen exilierte deutsche Intellektuelle schon daran, sich über die „Soziologie der Emigration” zu unterhalten. David Deutsch – Kulturkritiker und Nationalökonom – erklärte, daß er eine größere Arbeit über diesen Gegenstand vorbereite. „Ein sehr faszinierendes Thema”, behauptete er. „Faszinierend gerade deshalb, weil die Menschengruppe, um die es sich hier handelt, durchaus kein einheitliches Gebilde, keine Gruppe also im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt; vielmehr ein höchst zufälliges Gemisch von Individuen, denen durch sehr verschiedenartige Umstände ein ähnliches Schicksal aufgezwungen wurde.”

      Man saß in dem kleinen Lokal, das die Schwalbe in einer engen Nebenstraße des Boulevard Montparnasse, ein Schritte vom „Café du Dôme” und der „Coupole”, eröffnet hatte. Es gab hier recht gutes Bier; billige Mahlzeiten deutschen oder österreichischen Stils; man traf alte Freunde, machte Bekanntschaften, besprach die politischen Neuigkeiten und bekam Kredit bis zu einer gewissen Grenze, die durchaus willkürlich und je nach ihren unberechenbaren Sympathien von der Schwalben-Wirtin bestimmt wurde. Die Stammgäste waren fast sämtlich Deutsche. Zuweilen brachten sie ihre französischen Freunde mit; Marion etwa erschien mit Marcel Poiret, oder Martin führte Kikjou ein.

      „Ich glaube kaum, daß es jemals eine so uneinheitliche Emigration gegeben hat wie unsere”, sagte David und machte beim Sprechen seine schiefen, sinnlosen kleinen Verbeugungen vor Ilse Proskauer, die ihm aufmerksam lauschte. „In fast allen anderen historischen Fällen war die Zusammensetzung der Exilierten bestimmt durch soziale, nationale oder gesinnungsmäßige Charakteristika: ebenjene psychologischen oder ökonomischen Eigenschaften, die ihren Trägern den Aufenthalt in der Heimat unter gewissen politischen Umständen unmöglich machten. Was uns betrifft, so ist ein solches einigendes Moment, ein solcher Generalnenner kaum festzustellen.”