Der Vulkan. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066384098
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und heroisch gestimmt, wie sie war, gab sie luxuriöse Gewohnheiten auf; zum Beispiel die, in Nachtlokale zu gehen, Whisky zu trinken und fünfzig Zigaretten am Tag zu rauchen. Sie verzichtete auch darauf, weiter die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Ihrer Mutter teilte sie mit, daß sie Unterricht im Maschine-Schreiben und Stenographieren nehmen wolle, um möglichst bald selbst etwas zu verdienen. Frau von Kammer konnte nichts dagegen einwenden – obwohl die Vorstellung, eine ihrer Töchter als Sekretärin arbeiten zu sehen, ihr höchst peinlich war. Aber die Geldverhältnisse der Witwe verschlechterten sich rapide. Die Bilder und Kunstgegenstände, die ihr noch geblieben waren, hatte sie zwar, samt ihrer Wohnungseinrichtung und der kleinen Bibliothek, mit in die Schweiz nehmen können. Die besten Stücke aber waren längst verkauft, und von dem Barvermögen hatte sie erhebliche Teile für die „Reichsfluchtsteuer” opfern müssen.

      In dem kostspieligen Hotel an der Seepromenade war Frau von Kammer mit ihrer Tochter nur einige Wochen geblieben. Die Dreizimmer-Wohnung, die sie nach langem Suchen gefunden hatte, war immer noch teuer genug. Sie lag in der „Mythen-Straße”, die einen gediegen soignierten Eindruck machte. „Die Lage könnte nicht besser sein”, erklärte Marie-Luise ihren Bekannten, die kleinbürgerliche Enge der dunklen Parterre- Stuben mit der Vortrefflichkeit ihrer topographischen Situation gleichsam entschuldigend. „Man hat nur ein paar Schritte bis zum See, bis zu den guten Geschäften an der Bahnhofstraße, zum Paradeplatz, zum Kursaal und – darauf lege ich ganz besonderen Wert! – man ist nah bei der Tonhalle. Die Konzerte hier sollen ja ersten Ranges sein …” Wirklich hatte sich die geborene von Seydewitz, obwohl sie gar nicht musikalisch war, ein Abonnement für die Symphonie-Konzerte geleistet; dies glaubte sie ihrer gesellschaftlichen Stellung schuldig zu sein. „Wenn man aufhört zu repräsentieren”, versuchte sie Tilly klar zu machen, „ist man verloren. Die Leute sehen einen überhaupt nicht mehr an.”

      Der Geheimrat hatte in Zürich viele gute Freunde gehabt – prominente Kollegen, oder reiche Patienten – Marie-Luise durfte meinen, daß sie mit mehreren Damen aus Schweizer Patrizier-Kreisen in den herzlichsten Beziehungen stand. Nun meldete sie sich telephonisch bei ihnen. Man war erfreut, ihre Stimme zu hören; da sie als Adresse zunächst das luxuriöse Seehotel nennen konnte, nahm man an, sie befinde sich auf der Durchreise. Man lud sie zum Tee oder zum Abendessen ein. Sie nahm Tilly mit. „Du wirst sehen, wir werden bald einen reizenden Kreis hier haben”, versicherte sie siegesgewiß der Tochter auf der Taxifahrt zum Villenvorort, wo die lieben Bekannten wohnten.

      Indessen erfror das Lächeln auf den Mienen der wohlhabenden Gastgeber, als Frau von Kammer gestand, daß sie diesmal nicht auf einer Vergnügungs- oder Erholungsreise sei, sondern sich hier niederzulassen gedenke. Es war, als hätte man die eben noch respektable Dame bei suspekten, wahrscheinlich kriminellen Machenschaften ertappt. „Ja, wieso denn?! Warum denn nur, meine Liebe?” forschte angstvoll die Hausfrau. Als Marie-Luise aber, artig und gelassen, erklärte, dass man ihr doch wohl kaum zumuten könne, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte heute als ein Aussätziger gelten würde, – da fiel es wie ein eisiger Reif auf die gesellige Runde, und die gute Stimmung war weg. Nach einer fürchterlichen Pause bemerkte jemand, mit schonender Behutsamkeit: „Ja, freilich – der gute Geheimrat war ja … Er war ja wohl … hm …”: als müßte man nun endlich den peinlichen Tatbestand zugeben, daß Herr von Kammer Zeit seines Lebens an einer stinkenden Krätze gelitten habe. Tilly bekam schon drohende Augen; sie war im Begriff, Dinge zu äußern, die ihre Mama für immer in diesem Zirkel unmöglich gemacht hätten. Einer der anwesenden Herren ahnte es vielleicht; denn er sagte begütigend: „Gewiß, gewiß, es ist wohl nicht alles, wie es sein sollte im neuen Deutschland. Manche Tendenzen, – an sich vernünftig und lobenswert – werden ins Maßlose übertrieben. Das sind unvermeidliche Kinderkrankheiten …”

      Frau von Kammer erklärte, ruhig aber dezidiert: „Von Politik verstehe ich nichts; meine Kinder machen mir zum Vorwurf, daß ich nie Zeitungen lese. Aber soviel weiß ich doch: diese Nazis sind gemeine Plebejer. Man braucht sich nur ihre Gesichter anzuschauen! Sehen gutrassige Leute so aus?! Und benehmen Menschen, die eine Kinderstube haben, sich so, wie die Herren von Deutschland es tun?!”

      Einer der Gäste – ein millionenschwerer Industrieller; Mann von strammer Haltung und strammer Gesinnung – räusperte sich schon recht indigniert. „Aber erlauben Sie, gnädige Frau”, ließ er seinen einschüchternden Baß vernehmen. „Aus der Art, wie sie den Ausdruck ‚Plebejer’ verwenden, könnte man fast auf eine sehr rückständige Gesinnung bei Ihnen schließen. Die Männer des Volkes, die jetzt in Deutschland draußen, Gott sei’s gedankt, an der Macht sind, erfüllen eine eminente historische Aufgabe. Die Volksgemeinschaft ist hergestellt, die Hetze zum Klassenkampf gibt es nicht mehr. Wenn Sie die akute bolschewistische Gefahr bedenken, in der das Reich sich tatsächlich befand …”

      Die Hausfrau rief flehend: „Aber lassen wir doch die Politik! Frau von Kammer hat ja selbst erklärt, daß sie sich mit dergleichen nicht befaßt! Und es gibt doch so viel andere Gesprächsthemen, die amüsanter sind.” Sie blickte hilfesuchend im Kreise umher.

      Eine rechte Gemütlichkeit wollte sich nicht mehr herstellen. Frau von Kammer und ihre Tochter brachen früh auf. Im Wagen blieben sie beide eine Weile stumm. Marie-Luise saß in sehr aufrechter Haltung, den Blick starr geradeaus gerichtet. Tilly – die noch vor einer Viertelstunde sehr ärgerlich auf ihre Mutter gewesen war – spürte jetzt nur noch Mitleid. Sie überwand ihre Scheu und Befangenheit, die sie sonst in Gegenwart der Mama selten los wurde; vorsichtig streichelte sie die magere, harte Hand ihrer Mutter.

      Frau von Kammer war leicht zusammen gefahren; beinah hätte sie den Arm weggezogen. Sie hielt aber stille. Die kleine Liebkosung tat wohl. Mit einer ganz weichen, etwas heuchlerischen Stimme sagte sie: „Es war wohl nicht sehr unterhaltend bei Krügis – wie? Mir scheint, sie haben sich recht verändert. Früher ist es viel zwangloser und netter bei ihnen gewesen. Vielleicht war Frau Krügi durch irgend etwas präokkupiert …”

      „Sei nur still, Mama!” Tilly schmiegte sich enger an die Mutter. „Wir müssen ja nicht mehr zu den Leuten. Wir wollen überhaupt nicht mehr solche Besuche machen – versprichst du mir das?”

      Nun fand Frau von Kammer doch, daß ihre Tochter zu weit ging. Das war wieder jene Neigung zur Hemmungslosigkeit, die Marie-Luise so fremd und sogar beängstigend schien. „Es ist sehr wichtig für uns, daß wir von der Züricher Gesellschaft empfangen werden,” sagte sie, nicht ohne Strenge, und nahm wieder Haltung an. „Morgen sind wir zum Tee bei Wollenwebers.”

      Tilly seufzte und ließ die Hand ihrer Mutter los. –

      Frau von Kammer war in allen gesellschaftlichen Dingen von Sensibilität und prompt reagierendem Taktgefühl. Jetzt aber dauerte es ziemlich lange, bis sie es verstand und sich klar machte, daß sie in der Gesellschaft, der sie sich, ihrer Herkunft und Erziehung, wie ihrer Neigung nach, zugehörig fühlte, unerwünscht war. Nur sehr allmählich begriff sie, daß es bei den reichen, alteingesessenen, hochachtbaren Familien einfach als anstößig galt, mit der Regierung des eigenen Landes überworfen zu sein. Wenn es sich um ein sozialistisches Regime gehandelt hätte, mit dem man nicht auskommen konnte, wäre dies entschuldbar und selbst ehrenvoll gewesen.

      Marie-Luise sah sich fallen gelassen von denen, die sie als „Menschen meinesgleichen” zu bezeichnen pflegte, und sie litt darunter. Keineswegs hatte sie vorgehabt, sich von ihrer eigenen Gesellschaftsschicht zu lösen, als sie Deutschland verließ. Nicht ohne Schrecken mußte sie nun konstatieren, daß genau dies es war, was sie getan hatte. Sie fühlte sich sehr allein, – so allein, wie noch niemals zuvor im Leben. Mit wem sollte sie reden, wenn die „Menschen ihresgleichen” auf die Unterhaltung mit ihr keinen Wert mehr legten? Sie verstand nur ihren Jargon, keinen anderen. Sowohl die Leute „aus dem Volke” als auch die Intellektuellen drückten sich für die Ohren Marie-Luisens in fremden Zungen aus. Manchmal versuchten ein Briefträger, ein Handwerker oder die Gemüsefrau gutmütig, sie ins Gespräch zu ziehen. Sie hatten wohl davon gehört, daß diese deutsche Dame sich mit den neuen Machthabern in ihrem Lande nicht recht vertrug. Die meisten waren geneigt, Frau von Kammer, weil sie Emigrantin war, für eine Jüdin zu halten, trotz ihrem echt von-Seydewitz’schen Aussehen. Der Briefträger und die Gemüsefrau drückten ihre Empörung aus über all das, was man den Israeliten jetzt antat – dort „draußen”, im