Marie hob abwehrend die Hände, so als wolle sie Schläge von sich abwehren. »Ich …, ich glaube dir kein Wort!«, murmelte sie heiser.
Die andere Frau lachte und lehnte sich gemütlich in ihren Stuhl zurück. »Ach, nein?«, fragte sie gedehnt. Sie ließ Marie nicht aus den Augen. »Und woher kenne ich dann das Muttermal, das Ben ganz tief unten in der rechten Leistenbeuge hat? Es ist hellbraun und hat die Form eines Sterns.«
Marie zuckte zusammen, als hätt ihr jemand einen Dolch ins Herz gestoßen.
»Na, Mütterchen, dämmert dir jetzt die Wahrheit?«, trällerte Lisa. Sie holte ihr Handy aus der Tasche, suchte nach gewissen Fotos und zeigte sie der totenblassen Frau. »Was haben wir denn hier? Lass uns doch mal schauen. Ah, das hier ist doch besonders schön! Du hast, äh, du hattest wirklich einen aufregend attraktiven Mann«, sagte Lisa und zeigte Marie jene Fotos, die sie in der Unwetternacht von dem ahnungslos schlafenden Ben gemacht hatte.
Die Bilder verschwammen vor Maries Augen. Es war tatsächlich Ben, der nackt und völlig entspannt auf Lisas Sofa lag und schlief. Leintücher und Decken waren zur Seite gerutscht. Sein rechter Arm lag angewinkelt über seinem Kopf, das Gesicht hatte er leicht zur Seite geneigt. Der Anblick war seiner Frau so herzzerreißend vertraut, dass sie ein Schluchzen nicht unterdrücken konnte.
»Nein!«, wimmerte sie. »Nein!«
»Aber ja doch, Herzchen!«, verspottete die kaltherzherzige Blondine sie weiter. »Und du musst schon zugeben, dass ich mir wirklich Mühe gegeben habe! Das Rot vom Briefpapier ist dasselbe wie von meinem String; sexy, gell?«
»Nein, Ben hat nicht …«, keuchte Marie.
»Aber ja, er hat!« Lisas Augen glitzerten, und sie zog die Quittung über ein Hotelzimmer in München hervor. Zufällig war sie an demselben Wochenende, an dem Bens Flieger nicht starten konnte, auch dort gewesen. Sie hatte sich mit einem Bekannten getroffen, kräftig Party gemacht und sich mit ihm ein Doppelzimmer genommen. Diesen Beleg schwenkte sie jetzt vor Maries Augen hin und her. »Siehst du das hier? Warum wohl wollte Ben nicht, dass du nach München kommst? Weil ich zu ihm gefahren bin! Von wegen: Er hat am Flughafen geschlafen! Wir waren im Hotel, dein angebeteter Ehemann und ich!«
»Warum?«, stammelte Marie. »Warum … ausgerechnet Ben?«
»Na, warum wohl? Schau ihn dir doch an, deinen Prachtkerl! Hast du wirklich geglaubt, soviel männliche Schönheit gehört dir allein? Dir, dem kleinen Frauchen im Dirndl?«, fragte Lisa ätzend. »Du hast tatsächlich gar nichts aus deinem Leben gelernt! Aber eigentlich wundert mich das nicht, dich etwa? Wie solltest du Ben halten können, wenn es dir bei deinem ersten Mann auch nicht gelungen ist! Meine Güte, was hatten Fabian und ich damals für einen Spaß, hinter dem Rücken des ahnungslosen Mariechens in die Kiste zu steigen!«
Lisas Gemeinheiten vermischten sich zu einem Wortbrei, der irgendwie um die entsetze Marie herumwaberte. Sie konnte keine Einzelheiten mehr unterscheiden, nichts mehr klar erfassen. Ihr ganzes Denken und Fühlen war nur noch auf ein Ziel ausgerichtet: Diesem unerträglichen Schmerz, der in ihrer Brust wütete, zu entkommen. Für noch mehr Qual und Erniedrigung war kein Platz mehr in ihrem gepeinigten Herzen. Mit einem vollkommen leeren Blick stand sie vom Tisch auf und ging wie ein Automat zur Tür, die sie achtlos hinter sich geöffnet ließ. Ein eiskalter Windstoß fegte welkes Laub in das Café hinein.
»Hallo, Marie? Du hast deine Schokolade noch nicht bezahlt!«, rief Lisa ihr hinterher. Mit einem höhnischen Grinsen steckte sie ihr Handy und die Quittung ein und widmete sich ihrem doppelten Latte Macchiato.
Am anderen Tisch hatte Emilia die Szene mit wachsender Unruhe beobachtet. Bis auf Toni und Markus waren ihre Klassenkameraden inzwischen aufgebrochen. »Was war das denn eben?«, wandte sie sich an ihre Freunde. »Habt ihr gemerkt, wie seltsam Marie aussah und wie sie sich benommen hat? Da stimmt doch etwas nicht!«
Toni beobachtete Lisa, die gerade damit beschäftigt war, ihren Lippenstift nachzuziehen. »Die sieht aus wie ein Raubtier, das gerade seine Beute gerissen hat!«
»Ja! Gleichzeitig gefährlich und verdammt zufrieden«, stimmte Markus dem Mädchen zu.
Emilia wechselte einen Blick mit ihren Freunden, dann stand sie entschlossen auf und ging zu dem anderen Tisch hinüber. Ohne zu grüßen fragte sie streng: »Was hast du Marie eben auf dem Handy gezeigt? Sie war danach doch völlig durcheinander!«
Lisa schaute kaum auf und machte eine gelangweilte Handbewegung. »Das geht dich gar nichts an, Kleine! Verzieh dich!«
»Tut es sehr wohl! Marie ist meine Freundin, und ihr geht es gar nicht gut, das war deutlich zu sehen. Warum hast du dich nicht besser um sie gekümmert?«, protestierte Emilia.
»Kindchen, ich habe mich um sie gekümmert! Du hast ja keine Ahnung, wie sehr!«, lachte Lisa. Sie schüttelte ihre Haare über die Schultern und drehte gelangweilt ihr Gesicht zur Seite. »Und jetzt hau ab, du störst!«
Emilia funkelte sie böse an. »Marie hat ganz krank ausgesehen! Wenn ich rauskriege, dass du damit etwas zu tun hast, dann störe ich dich noch viel mehr, verlass dich drauf!«
»Wie redest du eigentlich mit mir?«, fuhr Lisa ihre Krallen aus.
»So wie du es offensichtlich verdienst!«, schoss Emilia zurück. Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zu ihren Freunden zurück, die am Ausgang auf sie warteten.
»Hast du gut gemacht!«, meinte ihr Freund Markus und pflanzte völlig überraschend einen Kuss auf ihre Wange! »Ich, äh, ich bin dann mal weg«, stammelte er, stieg auf sein Rad und war so schnell im Herbstwind verschwunden, als sei ihm ein Killermonster auf den Fersen.
»Jungs!«, meinte Toni kopfschüttelnd.
Emilia seufzte. In ihr stritten die Sorge um Maries seltsames Verhalten und die süße Wärme auf ihrer Wange, an der sie Markus‘ Lippen berührt hatten. Es war ja nun nicht »der« berühmte erste Kuss gewesen, aber sehr nahe dran …
Emilias Tagebuch wartete, um ihre Gedanken über das Leben im allgemeinen und Markus im besonderen aufzunehmen, und so rückte der unangenehme Auftritt in der Konditorei Bernauer vorerst in den Hintergrund.
*
Wie Marie auf den Ebereschenhof zurückgekommen war, konnte sie nicht sagen. Wie ein Automat hatte sie sich ins Auto gesetzt und war gefahren. Dass kein Unfall passiert war, grenzte an ein Wunder!
Irgendwann erwachte sie aus ihrer Erstarrung und bemerkte, dass sie offensichtlich schon eine ganze Zeit lang im Auto gesessen hatte. Der Regen hatte aufgehört, und es war sehr kalt geworden. Ohne einen klaren Gedanken zu fassen, stolperte Marie über den Hof, in die aufziehende Dämmerung hinein. Ihr war kalt, so unendlich kalt! Die Frau hatte das Gefühl, niemals im Leben könne ihr wieder warm werden. Mit klammen Fingern tastete sie nach dem Schlüssel und schlich durch den Hintereingang in die Küche.
Ben und Lisa. Lisa und Ben.
Unaufhörlich kreiste dieser Gedanke durch ihren Kopf und machte sie schwindelig. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie es geschafft hatte, sich einen Becher Tee zu kochen. Erschöpft ließ die junge Frau sich auf die Küchenbank fallen, aber kurze Zeit später stemmte sie sich ächzend wieder hoch. Die eigenartige Unruhe, die sie schon länger spürte, hatte sie wieder gepackt und trieb sie um.
Marie nahm eine Wolldecke und den Teebecher und ging schwerfällig zu der alten Laube am Ende des Gartens hinaus. Vielleicht würde es helfen, ein paar Schritte zu gehen und dann den Tee an ihrem Lieblingsplatz zu trinken. Sie stellte den Becher ab und entzündete mit zitternden Fingern ein Windlicht.
Ben und Lisa. Lisa und Ben.
Es machte sie verrückt! Die Vorstellung der beiden war etwas, was ihre Fantasie überstieg. Ben! Ihr Geliebter, ihr bester Freund und Ehemann. Der Vater zweier unschuldiger Kinder, die darauf warteten, auf die Welt zu kommen. Es war undenkbar! Es war so hinterhältig und gemein, so obszön – trotz allem, was Lisa als Beweise vorgelegt hatte, konnte es nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr