»Hey, süße Mami!« Benjamin strich sanft über ihre winzigen Sorgenfalten. »Vielleicht freuen sie sich auch, endlich ein bisschen mehr Platz zu haben? Wir werden es schon richtig machen. Deine Idee mit dem gemeinsamen Bettchen für die erste Zeit finde ich sehr gut, lass es uns so einrichten.« Ben griff nach dem Korb mit den Lebensmitteln und begann, sie auf der Decke zu verteilen. »Und jetzt lass uns unser Picknick genießen.«
Das Paar ließ sich die mitgebrachten Sachen schmecken, fütterte sich abwechselnd mit Trauben und Pfirsichen aus dem Obstkorb und naschte von den herrlichen Apfelküchlein, bis kein einziger Krümel mehr übrig war.
»Wie lecker!«, seufzte Marie und kuschelte sich zufrieden an Benjamins Brust. Er saß an einem Baumstamm gelehnt und hielt seine Frau in den Armen.
Auch Ben seufzte, aber es klang nicht so zufrieden wie eben bei Marie. »Das, was Afra vorhin über unseren Platz gesagt hat, geht mir auch schon länger durch den Kopf. Leider hat sie recht mit ihren Worten, wir müssen unsere Pläne völlig neu überdenken. Als Familie mit zwei Kindern brauchen wir den Platz im Haus für uns selbst. Wir haben uns den alten Stall doch schon angeschaut; wenn die Bausubstanz in Ordnung ist, könnten wir dort mit dem Ausbau von Ferienwohnungen beginnen. Meinst du, wir bekommen das hin, jetzt, da so viel anderes zu bedenken und zu tun ist und du für die körperliche Arbeiten ausfällst?«
Marie nickte. »Ich denke, ja!«, antwortete sie fest. »Den größten Teil der Arbeiten sollten wir bis zur Geburt fertig haben. Das müsste zu schaffen sein, weil das eigentliche Gebäude vorhanden ist, und neben dem Zimmermann auch andere Gewerke dort arbeiten werden. Es ist doch größtenteils eine Frage des Geldes. Ich …«, sie unterbrach sich und sprach dann mit einem kleinen Lächeln in der Stimme weiter, »… wir müssen dann wegen einer neuen Hypothek auf den Ebereschenhof verhandeln.«
Ben schmiegte seine Wange gegen ihr Haar. »Unser Zuhause!«, sagte er leise.
Sie sprachen noch weiter von ihrem Bauvorhaben, aber mehr und mehr driftete das Gespräch wieder zu dem großen Abenteuer Schwangerschaft und Zwillingsgeburt. Sie verloren sich in praktischen Überlegungen und Träumerei, überlegten die Fragen für ihr Gespräch mit dem Arzt und der Hebamme, malten sich das Kinderzimmer aus und überlegten sich jetzt ernsthaft mögliche Namen für ihre beiden winzigen Fragezeichen.
*
Was für ein rundum bescheuerter und langweiliger Abend!
Genervt drückte Lisa auf die Fernbedienung ihres Flachbildfernsehers und schaltete von einem Programm zum nächsten. Wer wollte diesen langweiligen Mist schon sehen!
Fußball! Sendungen über Schleiereulen oder Krabbenfischer an der Nordsee, politische Talkshows, einen französischen Spielfilm, bei dem kein Mensch wusste, worum es hier eigentlich ging. Die dritte Wiederholung eines alten Tatorts.
Weit und breit keine interessante Casting Show in Sicht oder diese Sendung, bei der Leute gezeigt wurden, die Kneipen oder Nagelstudios auf Mallorca aufmachen wollten und sich dabei so dämlich anstellten, dass man sich vor Schadenfreude auf dem Sofa kugeln konnte.
Keine Nachbarn, die sich fetzten, weil die Fußmatte um Null Komma Fünf Zentimeter verrutscht im Treppenhaus lag, kein Gekeife in irgendwelchen Promi-Ehen.
Gähnend warf Lisa die Fernbedienung in die Ecke und hätte vor Langerweile fast an ihren Fingernägeln gekaut, wenn das nicht so aufwändige Kunstwerke aus Gel und Glitzer gewesen wären. Die wenigen Menschen, bei denen sie hätte anrufen können, hatte sie bereits abtelefoniert, und nicht einer war zu einem längeren Tratsch bereit gewesen. Weil sie keine Lust auf den Biergarten hatte und ihr gar nichts anderes mehr einfiel, griff Lisa zu dem Taschenbuch, das sie letztes Jahr von jemandem geschenkt bekommen hatte. Es handelte sich um den Krimi ›Narbengeld‹, in dem es um Erpressung und einen Mord aus Leidenschaft ging.
Nachdem Lisa den in ihren Augen ziemlich langweilig geratenen Einstieg in die Geschichte geschafft hatte, nahm sie das Thema gefangen. Donnerwetter, die Frau, von der erzählt wurde, entpuppte sich als durchtriebenes und eiskaltes Biest! Mit genau überlegter Zielstrebigkeit verfolgte diese Tonya ihre finsteren Pläne, um einen reichen Industriellen zu Fall zu bringen. Das mit den ganzem Wirtschaftskram und womit dieser Typ so reich geworden war, interessierte Lisa weniger, das übersprang sie beim Lesen.
Aber das Vorgehen der Frau war Klasse!
Wie Tonya sich in die Familie des Industriellen einschlich und niemand, am wenigsten ihr späteres Opfer, merkte, worum es ihr wirklich ging! Wie freundlich und hilfsbereit sie war, dabei bescheiden und unauffällig.
Vor allem unauffällig.
Und gleichzeitig im Verborgenen aktiv wurde.
Nachdenklich ließ Lisa das Buch sinken. Mit Speck fängt man Mäuse, war bisher ihre Devise gewesen. Unauffälligkeit und Vorausschau gehörten nicht unbedingt zu ihren Verhaltensweisen. War sie deshalb bei Ben nicht zum Zug gekommen? Hatte sie ihn zu direkt zu ködern versucht? War ihre Freundlichkeit gegenüber Marie zu dick aufgetragen gewesen? Sollte sie vielleicht einerseits ihr Verhalten ein wenig zurückfahren und andererseits besser planen?
Als sie vor der Hochzeit versuchte, Lisa und Ben auseinander zu bringen, hatte sie es nur mit Worten probiert. Wenn sich die Gelegenheit bot, hatte sie Maries ohnehin schwaches Selbstvertrauen durch Gerede über Männer, Untreue und schmerzliche Erfahrungen zu erschüttern versucht.
Tonya, die Frau aus dem Krimi, tat scheinbar nichts, um ihre Interessen voran zu treiben, und dennoch handelte sie.
Äußerst interessant!
Lisa las, bis die letzten Glockenschläge zur Mitternacht verklungen waren. Dann hatte sie genügend Anregungen bekommen.
Sie ging hinüber ins Schlafzimmer und inspizierte die Schublade mit ihren Dessous. Lisa kicherte zufrieden; das, was sie im Haus hatte, eignete sich gut für einen gewissen Störfall. Und morgen würde sie in die Kreisstadt fahren und das richtige Briefpapier besorgen. Das, was man hier in Bergmoosbach kaufen konnte, war schlicht weiß und langweilig, es eignete sich nicht für ihre Zwecke. Sie wollte eine andere Farbe, ein leuchtendes Scharlachrot.
Überaus zufrieden mit sich und ihrem Plan, stolzierte Lisa ins Bett.
*
Im Doktorhaus saß man heute in kleiner Runde am Mittagstisch. Benedikt Seefeld war bei einem Kongress der Rheumatologen in München und wurde erst am nächsten Tag zurückerwartet. Sebastian nahm sich zum zweiten Mal von der leckeren Pilzpfanne, die Traudel auf den Tisch gestellt hatte. Er tunkte das noch ofenwarme Brot mit der krossen Kruste in die Sauce und genoss das erdige Aroma der Pilze, das sich mit dem der frischen Kräuter und des Knoblauchs verband. »Traudel, es schmeckt mal wieder fantastisch!«, sagte er. »Aber ohne fünf Minuten Zähneputzen und eine ganze Packung Pfefferminzpastillen werde ich wohl kaum durch die Nachmittagssprechstunde kommen.«
»Das wird schon«, antwortete die Haushälterin unbekümmert und griff noch einmal zur Pfeffermühle. Sie mochte ihr Essen gerne scharf gewürzt. »Bis dahin hast du noch genügend Zeit für Kirschkuchen und Kaffee, das neutralisiert den Knoblauch auch ein wenig, und danach kannst du dich deiner Atempflege widmen.«
»Mensch, Papa, das ist doch gar nicht so schlimm. Du bist aber auch so was von empfindlich!«, stichelte seine pubertäre Tochter.
Ihr Papa beschloss, das zu überhören, und fragte stattdessen: »Und wie war’s heute in der Schule?«
Diese Frage wurde jeden Mittag bei Tisch gestellt, und so gut wie immer gab es darauf die Antwort: »Normal.«
Auch