»Geh, ich bin jetzt seit dreißig Jahren hier, die Patienten haben mich noch nie gestört, solange sie sich zu benehmen wissen«, antwortete die rundliche Frau, die einen weißen Kittel über ihrer hellen Bluse und dem dunklen Faltenrock trug.
»Und deine Ordnung nicht stören«, entgegnete Leonhard amüsiert und schaute durch die geöffnete Tür ins Wartezimmer.
Die Stühle mit den blauen Polstern, die Spielzeugecke für die kleinen Patienten, alles war bereits aufgeräumt. Die Ordnung überließ Gerti nicht allein den beiden jungen Frauen, die nach der Sprechstunde die Praxis reinigten.
»Der Bereich vor dem Sprechzimmer steht unter meiner Verantwortung«, erklärte Gerti, und dabei leuchteten ihre hellen Augen voller Stolz.
»Ich weiß, ohne dich bricht hier das Chaos aus.«
»Leider gehorcht mir das Chaos nicht immer«, seufzte Gerti, während sie die Türen des weißen Aktenschrankes verschloss, der hinter ihr an der Wand stand. »So, jetzt geht’s ins Wochenende«, sagte sie, als kurz darauf die letzte Patientin aus dem Sprechzimmer kam.
»Auf Wiedersehen, Frau Draxler«, verabschiedete Sebastian die Frau in dem dunkelgrauen Dirndl, die ihren Kopf ganz gerade hielt, so als wagte sie es nicht, ihn zu bewegen.
»Vielen Dank, Herr Doktor, das ist wie ein Wunder, ein richtiges Wunder, die Kopfschmerzen sind wirklich weg«, sagte Elvira Draxler und schaute Sebastian verklärt an.
»Machen Sie die Lockerungsübungen, die ich Ihnen gezeigt habe, Frau Draxler.«
»Freilich, das mache ich. Nächste Woche komme ich dann, wegen der Tetanusimpfung.«
»Das können Sie mit Gerti ausmachen.«
»Aber Sie geben mir die Spritze. Gerti ist in solchen Dingen nicht gerade sehr einfühlsam«, flüsterte sie.
»Ich habe das gehört, Elvira«, meldete sich Gerti gleich zu Wort.
»Ist doch so«, entgegnete Elvira schnippisch. »Meine Kopfschmerzen waren übrigens keine Migräne, es war der Atlas«, erklärte sie und baute sich vor Gertis Tresen auf.
»So, der Atlas, interessant, der hat sich vermutlich verschoben, weil du deinen Kopf immer wie eine Antenne nach allen Richtungen ausrichtest, damit dir im Dorf nichts entgeht. Bei dieser Betätigung kann es schon sein, dass jemandem der Halswirbel heraushüpft.«
»Willst du mich beleidigen?«
»Leonhard, was kann ich für dich tun?«, fragte Sebastian und bedeutete Leonhard, dass er zu ihm ins Sprechzimmer kommen sollte.
Gerti würde mit Elvira Draxler, der zweiten Vorsitzenden des Landfrauenvereins und der neugierigsten Person im Dorf, schon allein fertig werden.
»Was ist los? Du siehst ein bisschen mitgenommen aus«, stellte Sebastian fest, als er seinen Freund anschaute, dem einzigen aus Bergmoosbach, mit dem er auch während der vielen Jahre, die er in Kanada gelebt hatte, immer in Kontakt gestanden hatte.
»Seit heute Morgen habe ich auch einiges hinter mir.«
»Was ist passiert?«, fragte Sebastian, während er das Fenster öffnete, weil noch immer das aufdringliche Parfum im Raum hing, das Elvira Draxler benutzte.
»Wir haben doch letzte Woche eine neue Tür am Honiglager angebracht.«
»Ich weiß, die man nur mit einem Code öffnen kann.«
»Ich dachte, es sei eine gute Idee, weil so niemand mehr nach einem Schlüssel suchen muss. Dummerweise habe ich es Herrn Schneider, unserem Imker, überlassen, den Code zu bestimmen. Leider hat er aber bei seiner überstürzten Abreise vergessen, ihn mir mitzuteilen, was mir aber erst heute Morgen bewusst wurde, weil nicht mehr genügend Honig für die heutige Bierproduktion im Braukeller vorrätig war und ich Nachschub holen wollte.«
»Du kannst deinen ehemaligen Imker doch sicher anrufen.«
»Das habe ich versucht, es war vergeblich. Seine Eltern meinten, dass er von Australien aus mit einem Schiff nach Neuseeland unterwegs sei.«
»Wie bist du in dein Honiglager gekommen?«
»Gar nicht. Mir ist eingefallen, dass Anna mir neulich erzählt hat, dass die Nichte vom alten Gärtner seine Imkerei übernommen hat. Ich habe den Honig, der uns für heute noch fehlte, bei ihr gekauft. Morgen früh kommt dann der Schlosser und versucht das Schloss zu knacken, vielleicht muss er es sogar austauschen, mal sehen.«
»Du warst in der Imkerei Gärtner?«, hakte Sebastian nach.
»Richtig, und vorhin sagt mir meine Sekretärin, dass Frau Gärtner sich bei uns als Imkerin beworben hat.«
»Ich weiß, Emilia hat ihr von der freien Stelle bei dir erzählt. Ich war vorhin übrigens auch in der Imkerei, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass Frau Gärtner dich kennt.«
»Ich habe mich ihr auch nicht vorgestellt. Es wäre mir peinlich gewesen, ihr zu sagen, dass ich nicht in mein eigenes Honiglager komme.« Erst recht, nachdem …
»Nachdem was?«, fragte Sebastian, als Leonhard innehielt.
»Nachdem ich sie gesehen hatte. Sie war wie eine Erscheinung, es war ganz merkwürdig.« Leonhard schaute auf die Vitrine aus gemasertem honigfarbenem Holz, die an der Wand neben Sebastians Schreibtisch stand und in der sie die alten Medizinbücher aufbewahrten, die sein Vater Benedikt im Laufe der Jahre gesammelt hatte.
»Sie war wie eine Erscheinung?«, wiederholte Sebastian.
»Ja, irgendwie schon. Weißt du, ich komme dort an, und dann sehe ich im Garten ein Wesen in einem langen silberfarbenen Kleid und mit langen blonden Haaren. Dieses Wesen stand mitten im Morgenlicht und sah so zart aus, beinahe durchsichtig. Ich dachte, das kann nur ein Traum sein, aber dann habe ich geklingelt, und das Wesen dreht sich um und spricht mich an.«
»Susanne Gärtner?«
»Ja«, sagte Leonhard und schaute verträumt aus dem Fenster. »Ist sie in Schwierigkeiten, dass sie sich nach einer Stelle umsieht?«
»Ich denke, sie sucht nach einer Arbeit, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.«
»Für den alten Gärtner war die Imkerei nur ein Zubrot zu seiner Rente, das stimmt. Ich werde nicht gut vor ihr dastehen, wenn ich zugeben muss, warum ich heute bei ihr eingekauft habe. Sie wird mich bestimmt danach fragen.«
»Dann erzählst du ihr, was passiert ist.«
»Sie wird mich für einen Trottel halten.«
»Nein, das glaube ich nicht. Du hattest ein Problem, und du hast es gelöst. Und wie es aussieht, wirst du mit ihrer Hilfe auch dein anderes Problem lösen.«
»Du meinst, sie ist die richtige für meine Imkerei?«
»Das musst du entscheiden.«
»Ich denke, ich werde nicht lange überlegen müssen.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Sebastian und klopfte dem Freund lächelnd auf die Schulter. »Hast du denn inzwischen das besondere Etwas gefunden, das du am Jubiläumstag deinen Gästen präsentieren wirst?«, erkundigte er sich.
»Bisher nicht, vielleicht belasse ich es auch einfach wie geplant bei unserem Jubiläumsbier und dem diesjährigen Honig. Viel Zeit habe ich ohnehin nicht mehr.«
»Die besten Einfälle überfallen uns ganz unverhofft, das weißt du.«
»Ich werde mich diesem Überfall nicht verweigern. Da du gerade einen Überfall erwähnst, habe ich dir schon erzählt, dass Veronika ihren Besuch für nächste Woche angekündigt hat?«
»Veronika Mittermeyer, die Tochter deines Hopfenlieferanten?«
»Richtig.«
»Sagtest du nicht, dass sie inzwischen akzeptiert hat, dass du dich von ihr getrennt hast?«