»Du führst also immer noch Selbstgespräche!«, sagte plötzlich eine tiefe, warme Männerstimme in ihrem Rücken.
Elisabeth fuhr überrascht herum. »Henning!«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Elli«, antwortete der Mann. Er beobachtete zärtlich-amüsiert ihre offensichtliche Verwirrung.
Elisabeth holte tief Luft. »Henning! Was tust du denn hier in Bergmoosbach?«
»Dich besuchen, Elli.« Seine braunen Augen waren genauso warmherzig wie sein Lächeln. »Und schauen, wie du dir deinen alten Traum vom eigenen Buchgeschäft erfüllst.«
Inzwischen hatte die junge Frau sich von ihrer anfänglichen Überraschung erholt. In einer unbewussten Abwehrgeste verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Woher weißt denn du von meinen Plänen?«
Sein freundliches Lächeln gewann an Tiefe und Ernsthaftigkeit. »Ich habe in dem Buchhandel in Rosenheim nachgefragt, in dem du gearbeitet hast. Dort sagte man mir, dass du nach Bergmoosbach ziehen und ein eigenes Geschäft eröffnen willst.«
»So, sagte man das.« Elisabeth runzelte leicht die Stirn. »Und weshalb interessiert es dich überhaupt?«
Sein Blick hüllte sie in Aufrichtigkeit und Wärme ein. »Weil du es bist, Elli! Ich möchte wissen, wie es dir geht, wie du lebst.«
»Gut, danke der Nachfrage!«, antwortete sie kurz angebunden und wies auf den weißen Umzugswagen, den sie gemietet hatte. »Wie du siehst, habe ich viel zu tun. Servus, Henning.« Sie wandte sich ab und wollte zu den Freunden hinübergehen, die den Transport ihrer Sachen begleitet hatten.
»Ähm, wart doch mal, nicht so schnell, Elli!«, rief er. »Kannst du nicht Hilfe gebrauchen?«
Die junge Frau drehte sich mit schwingenden Rocksäumen um und musterte den Mann: seine schlanke Erscheinung, die gepflegte, helle Sommerkleidung, die glänzenden Schuhe aus teurem Leder. »Der Herr Astrophysiker Doktor Henning Faber will Möbel und Bücherkartons schleppen?«, fragte sie mit einem gewissen Spott in der Stimme.
»Elli, ich bitte dich! Nur weil ich Wissenschaftler bin und mein Geld mit Kopfarbeit verdiene, bin ich noch lange kein Weichei, das im praktischen Leben nicht mit anpacken kann!«
»Ach? Und was war das mit …?«
Gellende Schreie unterbrachen den Satz der jungen Frau. »Weg, weg, weg!« Alles geschah blitzschnell, und in einem Wirbel aus blitzenden Fahrradspeichen, einem vor Entsetzen verzogenen Kindergesicht, einem fliegenden Körper und Ellis jähem Sturz auf das Pflaster!
Für einen Moment herrschte lähmende Stille, dann klang lautes Wehgeschrei aus der Hecke, in welcher der junge Radfahrer gelandet war: »Aua, aua, mein Bein, mein Bein!«
»Elli! Ist dir etwas passiert?« Henning kniete neben der jungen Frau, ganz blass um die Nase. »Elli!«
»Ne-nein, mir nicht«, stotterte die junge Frau. Sie schaute auf ihren rechten Arm, welcher der Länge nach aufgeschürft war und blutete. »Es ist nichts gebrochen, das sind nur Hautverletzungen, nichts Schlimmes. Dem Radfahrer ist offensichtlich mehr passiert!«
Hennig half ihr vom Boden hoch und hielt sie ein wenig länger, als dafür nötig gewesen wäre, in den Armen. »Elli, bist du sicher, dass nicht mehr passiert ist?«
»Doch, schon«, murmelte sie. Mit zitternden Knien wankte sie zu der Bank vor ihrem Geschäft und setzte sich. »Das ist nur der Schreck, der arme Unglücksrabe in der Hecke braucht viel mehr Hilfe.«
»Die bekommt er schon«, beruhigte sie der Mann. Er half Elli, die Blutung, so gut es ging, mit Papiertaschentüchern zu stoppen. »Du musst unbedingt zum Arzt, die Wunde muss gereinigt und desinfiziert werden.«
»Ja, gleich«, stimmte sie leise zu. Irgendwie hatte ihr Kopf den altvertrauten Platz an seiner Schulter gefunden, und Elli schloss für einen Moment die Augen. Dann richtete sie sich abrupt auf und rückte ein Stückchen zur Seite. »Lassen wir dem Arzt doch Zeit, sich um den verletzten Jungen zu kümmern.« Die Abschürfung an ihrem Arm brannte zwar wie Feuer, aber sie wusste, dass es nichts Gefährliches war und sie warten konnte.
Der Unfall hatte sich in Sichtweite der Praxis des Landdoktors abgespielt, und Doktor Seefeld war sofort über den Marktplatz gestürmt, um Erste Hilfe zu leisten. Seine junge Sprechstundenhilfe Caro begleitete ihn und assistierte bei der Erstversorgung des weinenden Jungen. Wie er unter Schluchzen hervorstieß, hatten bei seinem alten Fahrrad die Bremsen versagt, und mit immer größer werdender Geschwindigkeit war er die abschüssige Straße mitten in den Verkehr hinein gerast! Um nicht unter ein Auto zu kommen, hatte er das Fahrrad in die Ligusterhecke neben Ellis Geschäft gelenkt und dabei die junge Frau mit zu Boden gerissen.
»Du konntest nichts anderes tun, Bernhard«, sagte Doktor Seefeld beruhigend zu dem Jungen. »Es hätte noch viel, viel Schlimmeres passieren können, du hast einen Schutzengel an deiner Seite gehabt. Zwar hast du dir das Bein gebrochen, aber das wird im Krankenhaus wieder gerichtet, und in ein paar Wochen hast du die ganze Angelegenheit vergessen. Die junge Frau, die du über den Haufen gefahren hast, schaue ich mir gleich an. So wie es aussieht, ist ihr nichts Schlimmes passiert, das ich nicht mit ein paar Pflastern beheben kann.«
Während sich der Landdoktor um den Jungen gekümmert und etwas gegen dessen Schmerzen unternommen hatte, hatte seine Assistentin Caro den Rettungswagen gerufen und die Eltern des Zwölfjährigen informiert. Jetzt kniete die Mutter neben ihrem Sohn, und von der Landstraße herauf hörte man die Sirene des Rettungswagens. »Alles gut, Bernhard! Jetzt sind die Kollegen da und kümmern sich um dich.«
»Es tut mir so leid, ich wollte das doch nicht!«, stammelte der Junge.
»Es war ein Unfall mit einem glimpflichen Ausgang, und niemand macht dir einen Vorwurf! Wenn deine Bremsen versagt haben, dann trifft dich keine Schuld«, antwortete der Landdoktor entschieden. Er trat zur Seite, um Platz für seine Kollegen zu machen. Als der Junge auf der Trage lag und in den Wagen gehoben werden sollte, klopfte er ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Und ich möchte bitte mein Autogramm auf deinen Gips setzen, junger Mann!«
Bernhard grinste ein wenig schief, aber sehr erleichtert zurück. »Klar! Ich komm dann mal bei Ihnen in der Praxis vorbei.«
»Ich bitte darum!« Mit einem freundlichen Lächeln und einem beruhigenden Händedruck für die aufgelöste Mutter wandte Doktor Seefeld sich ab. Sein Blick fiel auf die leicht zerzaust aussehende junge Frau, die mit blutendem Arm auf der Bank hockte. »Guten Tag! Ich bin Sebastian Seefeld, der Arzt hier im Ort. Ich würde mir gern Ihren verletzten Arm anschauen.«
»Hallo! Ich bin Elisabeth Faber, und mir ist nichts wirklich Schlimmes passiert«, antwortete Elli mit einem tapferen Lächeln.
Doktor Seefeld musterte sie eindringlich nach möglichen Anzeichen einer Gehirnerschütterung oder anderen Verletzungen. »Den Arm muss ich gründlich reinigen und desinfizieren. Meine Praxis ist dort drüben, auf der kleinen Anhöhe jenseits des Marktplatzes. Können Sie dorthin gehen?«
»Natürlich.« Elli richtete sich auf und straffte ihren Rücken. »Außer ein paar blauen Flecken und Prellungen hab ich nichts abbekommen.«
»Und die Abschürfungen an deinem Arm, das sieht böse genug aus!«, warf Henning ein.
Elli winkte ab. »Das wird schon wieder! Ich bin gleich drüben bei Ihnen, Herr Doktor.«
»Ich komme mit!« Wie selbstverständlich griff Henning stützend nach ihrem unverletzten Arm.
»Tatsächlich?« Elli musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und entzog sich seinem fürsorglichen Halt. »Solltest du nicht zumindest vorher fragen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinüber zu ihren Umzugshelfern, gab genaue Anweisungen und schloss sowohl das Geschäft als auch ihre kleine Wohnung darüber auf. Dann klemmte sie sich ihre große Handtasche aus verschlissenem Brokat unter den unverletzten Arm und marschierte unter den interessierten Blicken