Seine Augen lächelten. »Du hast Farbe im Gesicht«, sagte er zärtlich.
»Das hat die Heldin im Roman auch immer, und dann fällt sie von der Leiter direkt in die Arme ihres Liebsten«, antwortete Elli trocken und stieg unfallfrei auf den Fußboden herab.
»Und dann küssen sie sich?« Hennings Stimme war angenehm wie sanftes Streicheln.
»Ja – im Roman!« Elli schob ihn mit dem Ellbogen zur Seite und setzte ihren leeren Farbeimer ab. »Vorsicht, dass du deine hellen Klamotten nicht beschmierst!«
Henning hob in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. »Elli, du warst schon immer zupackend und praktisch, aber bist du jemals so unromantisch gewesen?«
Sie zuckte kurz mit den Schultern, und jetzt war ihr neckender Tonfall nicht ganz frei von Schärfe. »Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht so genau.« Dann schaute sie ihn fest an. »Du bist gekommen, um mir zu helfen? Gut, dann trage bitte die Leiter und mein Malerwerkzeug in den alten Schuppen hinten im Hof.«
»Das will ich gern tun, aber zunächst möchte ich wissen, wie es dir geht, Elli. Was macht dein Arm? Und spürst du noch anderes, das dir vielleicht zunächst nicht aufgefallen ist?«
Überrascht von seinem plötzlichen Interesse antwortete die junge Frau: »Ein paar blaue Flecke, das ist alles. Und die Abschürfungen heilen gut, Doktor Seefeld ist sehr zufrieden. Was fällt mir sonst noch auf? Dass ich einen Mordshunger habe! Ich setz mich gleich raus und esse Leberkäsesemmeln. Wenn du magst, setz dich zu mir.«
»Du frühstückst also immer noch nicht vernünftig!«, stellte der Mann kopfschüttelnd fest.
Elli sah aus, als ob sie dazu etwas zu sagen hätte, aber dann klappte sie den Mund wieder zu und marschierte wortlos mit Semmeltüte und Wasserflasche aus ihrem Laden.
Nachdem Hennig Leiter und Handwerkszeug im Schuppen verstaut hatte, setzte er sich zu der jungen Frau hinaus auf die Hausbank vor ihrem Schaufenster. Auf eine Leberkäsesemmel hatte er zwar keinen Appetit – »Danke, im Gegensatz zu dir habe ich morgens reichlich gefrühstückt!« –, aber er schien trotzdem gern zu bleiben und ihr beim Schmausen zuzuschauen.
Elli saß im Schneidersitz auf ihrer Bank und ließ sich nach getaner Arbeit die Semmel gut schmecken. Es ging bereits auf die Mittagszeit zu, und auf den Straßen des kleinen Ortes herrschte reger Betrieb. Touristen bummelten und fotografierten, Einheimische gingen einkaufen, holten ihre Kleinen vom Kindergarten drüben bei der Kirche ab oder führten ihre Hunde aus. Das sommerliche Bild der idyllischen Gassen wurde nur wenig getrübt durch die Anhäufung von Sperrmüll, denn heute war der halbjährliche Abfuhrtermin. Altes, Zerbrochenes und Kartons häuften sich an den Straßenrändern.
Henning schaute seine Ex-Frau von der Seite an. »So wie ich dich kenne, bist du bestimmt schon losgezogen, um nach versteckten Schätzen Ausschau zu halten.«
Elli grinste. »Natürlich! Ich habe einen tollen alten Spiegel gefunden, der kommt ins Geschäft. Und einen alten Pflanztisch aus Metall, wunderschön und nur mäßig verrostet. Der steht schon im Hinterhof. Ich sage dir, in einem Jahr habe ich den in einen verzauberten Garten verwandelt!«
»Glaube ich dir aufs Wort!« Henning sah die funkelnden Augen seiner ehemaligen Frau und wusste, welche Bilder jetzt durch ihren Kopf zogen. Es berührte ihn tief zu erkennen, wie vertraut sie ihm in allen schicksalhaften Veränderungen geblieben war. Ihre Träume und Wünsche, ihre Vorlieben und Abneigungen –, er kannte sie alle. Verwundert stellte er fest, wie bei diesem Gedanken sein Herz schneller zu schlagen begann. Vier Jahre waren seit der unglückseligen Trennung vergangen, und er fühlte sich Elisabeth so nah wie in ihrer gemeinsamen Zeit.
»Elli?«, begann er tastend. Wie von selbst verfing sich eine ihrer lockigen Haarsträhnen in seiner Hand. Das vertraute, seidige Gefühl in seinen Fingerspitzen durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. »Es war nicht alles schlecht mit uns, nicht wahr?«
»Hm?«, machte Elli. Weder ihre Gedanken noch ihr Blick waren auf ihren Ex-Mann gerichtet, sie begutachtete gerade einigen Krimskrams, der in wenigen Metern Entfernung am Straßenrand stand. »Guck mal, ist dieser alte Nähtisch nicht wunderhübsch? Der hat heute in der Früh noch gar nicht hier gestanden.« Sie sprang auf und ging zu dem kleinen verschrammten Möbelstück mit den Messingknöpfen an der Schublade. »Der ist doch zauberhaft, diese Möbel gibt es heutzutage gar nicht mehr! Den poliere ich mir auf, und dann wird es der perfekte Nachttisch neben meinem großen Metallbett!«
Henning unterdrückte einen Seufzer und ging zu Elli hinüber, die einige Kartons zur Seite räumte, um an ihr Schätzchen heranzukommen. Das große Sperrmüllauto war schon bis auf wenige Meter herangekommen, unter grässlichem Knirschen und Krachen der Presse wurden die abgestellten Sachen vernichtet.
Traudel vom Doktorhaus kam gerade mit Nolan, dem jungen Familienhund, vorbei, als Elli den kleinen Nähtisch vom Straßenrand zurücktrug. »Na, haben Sie noch etwas Schönes gefunden?«, versuchte sie, den Lärm der Presse zu übertönen.
Elli nickte begeistert.
»Nolan, komm weiter!«, befahl Traudel dem heftig bellenden Junghund. »Der Lärm hier macht dich ja ganz verrückt.«
Aber Nolan gehorchte nicht, sondern tobte weiter an der kurzen Leine herum und bellte wie verrückt in Richtung der Kartons. Es war der kleine, braune, mit Paketband fest umwickelte, der seine Aufmerksamkeit erregte. Wie wild versuchte er, den zu erreichen.
»Jetzt holen Sie mal Ihren Hund hier weg, das Gebell macht einen ja ganz narrisch!«, knurrte einer der Müllmänner böse und begann, die Kartons und anderen Kleinkram in die Presse zu werfen.
Verzweifelt heulte Nolan auf und versuchte, sich loszureißen.
Dann fiel bei Elisabeth der Groschen! »Er meint diesen hier!«, schrie sie und riss den kleinen Karton im letzten Augenblick aus den Händen des Müllmanns. Der zuckte nur die Achseln, legte den Hebel um, und die Presse begann von neuem ihr Zerstörungswerk.
»Meine Güte, was war das denn?« Ratlos schaute Henning von einem zum anderen.
»Keine Ahnung! So hat Nolan sich noch nie aufgeführt«, antwortete Traudel. Der Hund saß jetzt brav am Straßenrand, die Ohren gespitzt und seine wachen Augen wie gebannt auf Elli und die Schachtel in ihren Händen gerichtet.
»Irgendetwas ist hier drinnen, das er gewittert haben muss!«, sagte Elli. »Aber was? Der Karton wiegt so gut wie nichts, was kann da schon drinnen sein?« Entschlossen entfernte sie die Klebestreifen, klappte den Deckel auf – und schnappte entsetzt nach Luft. In dem Kasten lag halb erstickt und bewegungslos ein winziges schwarzes Katzenkind! »Wer tut denn so etwas? Das Kleine wäre in der Presse gelandet, wenn wir es nicht im letzten Augenblick gefunden hätten!« Voller Mitleid hielt sie das Kätzchen in ihren Händen. Es war so winzig und zerbrechlich, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Nolan stand jetzt dicht neben ihr und versuchte, einen Blick auf das zu erhaschen, was die Frau in ihren Händen hielt. Elli senkte ihre Hände und hielt dem jungen Hund das stille Kätzchen entgegen.
Nolan beschnupperte es von allen Seiten, stupste es ganz sanft mit der Nase an, und dann begann er vorsichtig, das winzige Kätzchen zu lecken. Und die Menschen trauten ihren Augen und Ohren nicht! Das fast schon leblose Tierchen streckte sich, kringelte sich der warmen Berührung durch die Hundeschnauze entgegen und begann, leise, aber unüberhörbar zu schnurren!
»Ich fass es nicht!«, staunte Elli.
»Guter Nolan! Bist der Allerbeste!« Gerührt und stolz streichelte Traudel den großen Hund, der so unglaublich sanft und behutsam mit dem schwachen Kätzchen umging. »Du holst das Kleine ins Leben zurück, gell?«
»Ja, ohne dich wäre ich nicht auf diesen Karton aufmerksam geworden«, antwortete Elli.
»Aber letztendlich bist du es gewesen, der Nolans Signale richtig gedeutet hat!«, erinnerte Henning. »Was wirst du denn jetzt mit dem Kätzchen tun?«, fragte er weiter, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Aufpäppeln!«, antwortete Elli wie aus der Pistole geschossen.