Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tessa Hofreiter
Издательство: Bookwire
Серия: Der neue Landdoktor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740980672
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dass du dich so selbstverständlich auf dem Gerüst bewegt hast. Für mich wäre das nichts, ich habe nämlich Höhenangst.«

      Sophia schaute auf das Gerüst. »So hoch ist es gar nicht, ich schätze es auf ungefähr acht Meter. Aber für jemanden mit Höhenangst ist es bestimmt acht Meter zu hoch!«, sagte sie verständnisvoll. »Wie gut, dass die Orgelemporen immer eine zuverlässige Brüstung haben.«

      »Da bin ich ganz deiner Meinung!«

      »Kommst du mit auf eine Brotzeit in den Biergarten? Wir haben uns eine Pause verdient.« Unternehmungslustig schaute sie ihn an, und Leander antwortete mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Offenheit und ihr unbekümmerter Schwung machten ihn glücklich.

      Nachdem die beiden Restauratoren das Kirchenschiff verlassen hatten, krabbelte Marei unter der Bank hervor und ging auf Zehenspitzen zum Gerüst hinüber. Zufrieden dachte sie, dass sie einen richtig guten Zeitpunkt erwischt hatte, die Brotzeit würde die beiden Künstler eine Weile beschäftigen. Von unten betrachtet sah das Gerüst wirklich nicht furchtbar hoch aus. Was acht Meter in voller Höhe bedeuteten, konnte das Mädchen sich nicht genau vorstellen; viel war es wohl nicht, das hatte die hübsche Malerin selbst gesagt. Entschlossen strich Marei ihre dunkle Lockenmähne hinter die Ohren zurück, griff nach den Leitersprossen und begann ihr Abenteuer.

      Vorsichtig kletterte sie Stufe für Stufe empor und hatte bald den dritten Laufsteg erreicht. So schwer war es eigentlich gar nicht. Uneigentlich war ihr ein bisschen komisch zumute, weil sich die ganze Angelegenheit deutlich wackeliger anfühlte, als sie gedacht hatte. Das Gerüst war zwar fest in der Wand verankert, aber die Bretter, auf die Marei trat, schwangen ganz leicht unter ihren Bewegungen. Und die Eisenstangen klirrten merkwürdig, wenn sie stieg … zwar nur wenig, aber merkwürdig. Tapfer hielt das kleine Mädchen seinen Blick immer nur auf die eine Leitersprosse gerichtet, die es zu erklimmen galt.

      Vielleicht war sie schon hoch genug? Sie hatte eigentlich vorgehabt, beim Gewand des Engels am Halsausschnitt einen hübschen blauen Stern zu malen, aber vielleicht reichte es auch am unteren Saum? Dann brauchte sie nicht noch eine Etage höher zu steigen. Vorsichtig löste Marei ihren Blick von der Leiter und stellte erleichtert fest, dass sie sich auf der richtigen Höhe befand. Das Gewand des Engels schwebte in Reichweite ihres Filzstiftes.

      Leider befand sich ihr Ziel nicht direkt neben der Leiter, die dem kleinen Mädchen einen gewissen Rückhalt bot. Marei würde zur Mitte des schmalen Laufstegs gehen müssen und der hatte anstelle einer Brüstung nur eine Eisenstange, an der man sich festhalten konnte. Und hinter dieser Eisenstange gähnte der Abgrund, das Kirchenschiff, das dem Mädchen noch nie so riesig erschienen war. Marei versuchte ein, zwei Schritte auf der Planke, die eine Hand um die Eisenstange geklammert, die andere gegen die feste Wand ausgestreckt, die sie so gerade eben mit den Fingerspitzen berührte. Das reichte bei weitem nicht aus, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben! Ihre Angst wurde bodenlos, so bodenlos wie der Abgrund zu ihrer Linken.

      Umkehren, ich muss zurück!, dachte sie panisch. Aber dazu hätte sie sich auf dem Holzsteg umdrehen müssen, und Marei erkannte, dass das ganz und gar unmöglich geworden war. Wenn sie jetzt einen Fuß hob, dann würde sie fallen …, fallen …, »Mama, hilf mir!«, flüsterte sie mit weißen Lippen. Marei stand in absoluter Panik erstarrt, wagte nicht zu rufen, wagte kaum zu atmen und wusste, dass dieses hier niemals wieder gut werden würde.

      *

      Im Biergarten der Brauerei Schwartz herrschte Hochbetrieb. Sophia und Leander hatten zum Glück einen schönen Platz im Schatten einer der alten Kastanienbäume gefunden und ließen sich ihre bayerische Brotzeit gut schmecken. Die Malerin hatte sich für dunkles Bauernbrot mit Radi und Geselchtem entschieden, Leander für Wurstsalat. Nur auf die traditionelle Maß Bier verzichteten sie, weil noch ihre Arbeit auf sie wartete.

      Leander war glücklich, Sophia so entspannt und gesprächig zu erleben. Sie sprudelte über von Ideen, die sie bei ihrem nächsten Arbeitsschritt verwirklichen wollte, lachte und hatte zum ersten Mal, seitdem der Mann sie kennengelernt hatte, offensichtlich richtig Spaß.

      Plötzlich entdeckte sie Sebastian und seine Tochter, die ihr Rad mit dem Schulrucksack schob. Sophia winkte und machte eine einladende Geste, aber der Landdoktor schüttelte den Kopf. »Traudel erwartet uns zum Mittagessen«, sagte er über die Hecke hinweg, »aber es ist trotzdem gut, dass ich euch beide getroffen habe. Bei unseren Freunden auf dem Gestüt Brunnenhof sind Fohlen angekommen, Zwillinge und absolut hinreißend. Wir sind von der Familie eingeladen worden, am Sonntag auf das Gestüt zu kommen. Wir wollen uns einen schönen Nachmittag machen und auch den Nachwuchs besichtigen. Wie ist es, habt ihr Lust mitzukommen?«

      »Ach, bitte! Die Kleinen sind so wunderschön, ich habe sie schon gesehen. Je mehr wir bei diesem Ausflug sind, desto schöner wird es!«, sprudelte Emilia hervor.

      Leander und Sophia wechselten einen Blick verständnisvoller Belustigung und sagten der Verabredung zu.

      »Sehr schön!« Sebastian klopfte Leander kameradschaftlich auf die Schulter. »Dann haben wir auch mal etwas Zeit für einander. Bisher habe ich dich ja kaum zu Gesicht bekommen.«

      Was daran liegt, dass du Sophia eine Unterkunft angeboten hast und dich sehr gut und viel um sie kümmerst!, dachte der Orgelbauer im Stillen. Er nickte nachsichtig. »Dann also bis Sonntag.«

      Die Seefelds wollten sich gerade verabschieden, als eine Frau, die einen aufgelösten Eindruck machte, auf den Biergarten zulief. Es war Frau Plättner, die mittlerweile ihre Jüngste vermisste. »Grüß Gott, Herr Doktor, haben Sie vielleicht die Marei gesehen? Sie ist nicht von der Schule heimgekommen!«

      »Tut mir leid, Frau Plättner, ich habe Ihre Tochter nicht gesehen«, antwortete Sebastian ruhig. »Wie lange vermissen Sie die Kleine denn schon?«

      »Vor ungefähr zwei Stunden hätte sie zu Hause sein sollen. Der Hubi hat sich am Brunnen von ihr verabschiedet, sagt er, und seitdem ist sie verschwunden. Die ganze Familie sucht nach ihr!«

      Sebastian hörte die wachsende Angst in der Stimme der Mutter und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Jeder hier kennt den Wirbelwind Marei, sie wird bestimmt bald gefunden werden!«

      »Wenn es Sie beruhigt, drehe ich eben noch eine Runde um den Sternwolkensee«, bot Emilia an. »Vielleicht verfüttert sie das Pausenbrot an die Schwäne und hat einfach die Zeit vergessen.«

      »Danke, das ist lieb von dir!« Frau Plättners Augen suchten den Biergarten ab und flogen weiter zu Afras Kiosk, bei dem es auch kleine Süßigkeiten und Eis zu kaufen gab. »Ich muss weiter suchen. Vielen Dank für eure Hilfe!« Sie lief weiter.

      »Hoffen wir, dass die Kleine bald wieder auftaucht!«, sagte Sebastian ernst. Er wusste zwar, dass Marei ein kleiner Tausendsassa war und gern mal die Zeit verspielte, aber nicht von der Schule nach Hause zu kommen, das war etwas anderes.

      »Wir halten auch die Augen offen!«, versprach Sophia.

      Erst nachdem der Landdoktor sich verabschiedet hatte, fiel ihr auf, dass Leander blass und sehr still am Tisch saß. »Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt.

      »Wie?« Er schreckte aus seinen Gedanken auf. »Ja, danke, es geht mir gut. Hoffen wir, dass die Kleine bald wieder zuhause ist.«

      »Wahrscheinlich sitzt sie irgendwo bei einer Freundin im Garten in einer selbstgebauten Höhle und kocht aus Blättern und Beeren ein Mittagessen für ihren Teddy!«, versuchte Sophia die verlorene Leichtigkeit wiederherzustellen.

      »Ja, wahrscheinlich«, murmelte Leander. Er schob seinen Teller zur Seite. »Entschuldige, ich habe keinen Appetit mehr.«

      Sophia aß den Rest ihres Brotes in bedrücktem Schweigen, und dann gingen die beiden in die Stille der Kirche zurück.

      Leander, der eine sehr schmerzliche Erinnerung wegen eines verschwundenen Kindes hatte, riss sich zusammen, um wieder auf Sophias Schwung und Elan eingehen zu können. Er wollte so gern, dass sie den Tag genießen und mit Freude an den künstlerischen Teil der Arbeit gehen konnte.

      »Also, was wirst du jetzt als Nächstes tun?«, fragte er betont munter.

      Sophias