Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tessa Hofreiter
Издательство: Bookwire
Серия: Der neue Landdoktor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740980672
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Güte!« Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst. »Das muss die verschwundene Marei sein!«

      »Was macht sie nur da oben? Mein Himmel, das ist doch viel zu gefährlich! Wie leicht kann sie unter der Stange hindurchrutschen!« Unwillkürlich war Sophias Stimme immer lauter geworden.

      »Psst! Nicht so laut! Wenn wir sie erschrecken, könnte sie den Halt verlieren!«, sagte er leise. Behutsam näherte der Mann sich dem Gerüst, bis er genau unter dem Kind stand. Er hob den Kopf und sagte so normal wie möglich: »Hallo, du da oben! Ich bin Leander, bist du vielleicht die Marei?«

      Ein unmerkliches Kopfnicken antwortete.

      »Weißt du, Marei, du machst das mit dem Stillstehen und dem Festhalten richtig gut. Kannst du das noch ein wenig länger tun und genau so stehenbleiben? Ich komme jetzt hoch zu dir, und wir beide zusammen klettern dann ganz langsam und gemütlich wieder runter, einverstanden?«

      Von oben kam keine Regung.

      »Leander, nicht! Du hast Höhenangst! Ich hole die Kleine runter!«, flüsterte Sophia.

      Der Mann war weiß wie die Wand, aber er schüttelte den Kopf. »Nein!«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie hat Todesangst und wird sich wie ein Klammeräffchen an dich krallen, du wirst sie nach unten tragen müssen. Das schaffst du nicht allein. Ruf Sebastian an, er soll der Mutter sagen, dass wir die Kleine gefunden haben. Ich gehe jetzt und hole sie. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt alle ganz ruhig bleiben!«

      Sophia nickte wortlos, und dann umfassten ihre Hände sein Gesicht, und ihre dunklen Augen hielten seinen Blick ganz fest. »Gib auf dich acht, Leander!«

      Für einen Herzschlag vergaß er seine Angst vor der Höhe, die Angst um das Kind, die Angst vor dem gemeinsamen Abstieg. Es gab nur ihn und diese Frau. Sein Lächeln umarmte sie, dann trat er einen Schritt zur Seite und griff nach der ersten Leiterstufe. »Also, Marei, ich komme jetzt zu dir.«

      Vorsichtig zog er sich in die Höhe, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Er versuchte, nicht auf seine Angst zu achten, und zwang sich zum ruhigen, gleichmäßigen Atmen. Es ging, er kam tatsächlich voran! Von unten hörte er Sophias Stimme, die leise ins Handy sprach, von oben kam kein Laut. Seine ganze Konzentration richtete er darauf, seine Angst zu besiegen und in Bewegung zu bleiben. Jetzt hatte er die Planke erreicht, auf der das Kind wie angewurzelt stand.

      »Hallo, Marei, jetzt sind wir also zu zweit hier oben«, sagte er freundlich. »Und zusammen schaffen wir auch den Abstieg. Was meinst du, kannst du dich jetzt mal ganz langsam umdrehen und zu mir an die Leiter kommen? Ich streck dir ganz weit meinen Arm entgegen, siehst du?«

      »Kann … nicht … loslassen!«

      »Das musst du auch nicht!« Beruhigend sprach Leander auf das Kind ein. »Versuche, auch die zweite Hand auf die Stange zu legen. Dann hast du mehr Halt.«

      Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, dann löste die Kleine tatsächlich ihre Fingerspitzen von der Kirchenwand und umklammerte jetzt mit beiden Händen die Eisenstange, die sie vom Nichts trennte.

      »Sehr gut!«, sagte Leander ruhig. »Du hast es schon fast geschafft! Jetzt lässt du einfach deine Füße ein bisschen weiter zu mir rutschen, du brauchst sie gar nicht von der Planke abzuheben. Und mit den Händen machst du es genauso. Rutsch einfach zu mir her, so langsam du willst, wir haben ganz viel Zeit.«

      Seine Einfühlsamkeit in die Lage des Kindes und seine Ruhe übertrugen sich auf Marei, und es gelang ihr, sich Millimeter für Millimeter in seine Nähe zu schieben. Irgendwann war sie in seiner Reichweite, sein Arm legte sich um ihren Körper, und mit einem Schluchzer unendlicher Erleichterung fiel sie in seinen schützenden Halt.

      Im ersten Moment wusste Leander nicht, wer sich mehr an wen klammerte! Er war unendlich erleichtert, so weit gekommen zu sein, aber noch stand ihm der Abstieg bevor. Dem Mann war klar, dass das Mädchen nicht allein gehen würde, sie hing wirklich wie ein Äffchen vor seiner Brust und umklammerte ihn mit Armen und Beinen. Er holte tief Luft. »So, Marei, dann wollen wir mal zusehen, dass wir nach unten kommen. Ich habe so eine Ahnung, dass deine Mama schon eine ganze Weile mit dem Mittagessen wartet, hm? Was soll es denn heute bei euch geben?«

      »Pfannkuchen«, flüsterte es neben seinem Ohr. »Mit Apfelmus.«

      »Na dann: Pfannkuchen, wir kommen!«

      Mit angehaltenem Atem verfolgte Sophia den Abstieg. Vor Anspannung hatte sie ihre eiskalte Hand in den Arm des Landarztes verkrallt, ohne dass sie es bemerkte. Emilia stand neben ihnen und hatte schützend den Arm um Frau Plättner gelegt. Mareis Mutter hatte beide Hände vor den Mund geschlagen, um jeden Ausruf zu unterdrücken, ihre Angst war beinahe körperlich fassbar!

      Und dann spürte Leander endlich festen Boden unter den Füßen!

      »Hey, kleine Klette«, sagte er mit zitternder Stimme, »wir haben’s geschafft! Du kannst mich jetzt loslassen.«

      Langsam lösten sich die Arme von seinem Hals, die dünnen Kinderbeine rutschten von seinen Hüften, und Marei stand wahr und wahrhaftig auf dem Erdboden. »Mama!« Mit einem Aufschrei warf sich das kleine Mädchen in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter. »Mama, Mama!«

      »Marei! Mein Himmel, bin ich dankbar, dass dir nichts passiert ist!« Frau Plättner lachte und weinte in einem Atemzug. »So froh bin ich, so froh!«

      Leander sackte auf der nächstbesten Kirchenbank zusammen. Sophia und Sebastian sahen, dass sein T-Shirt völlig durchgeschwitzt war. Mit dem Kinn wies er auf das Gerüst. »Acht Meter, hm? Ich bin eben auf einen Achttausender gestiegen!«

      »Und wieder gut abgestiegen!« Sophia kniete neben ihm und schaute ihn mit glänzenden Augen an. »Ich bin so erleichtert, dass dir nichts passiert ist!«

      »Alles in Ordnung, Leander?« Der Landdoktor musterte den Mann aufmerksam und griff beiläufig nach dessen Handgelenk, um den Puls zu messen. Er war eindeutig noch viel zu schnell.

      »Danke, ich danke Ihnen so sehr!« Jetzt stand auch Frau Plättner vor ihm, mit der kleinen Marei fest an der Hand. »Sie sind ein Held, Herr Florentin!«

      »Nein, bin ich nicht!«, wehrte Leander ab. Allmählich begann ihn die allgemeine Aufmerksamkeit zu stören. »Marei ist jetzt wieder daheim, und alles ist gut.«

      »Ja, aber nur ganz allein Ihretwegen!« Frau Plättner war nicht davon abzubringen. »Das werden wir Ihnen nie vergessen!«

      »Du hast deine Höhenangst überwunden, das ist eine enorme Leistung, Leander!«, sagte Doktor Seefeld ruhig.

      »Da hab ich eine Neuigkeit für dich, Doktor!«, brummte der andere Mann. »Die hab ich nämlich nicht überwunden, sie ist immer noch da. Müsste laut medizinischer Lehrbücher zwar verschwunden sein, ist sie aber nicht!«

      Erstaunt blickte Sophia zu Sebastian auf. Sie konnte Leanders gereizten Tonfall nicht verstehen, warum war er jetzt so verärgert? Als Antwort auf ihre stumme Frage schüttelte der erfahrene Arzt leicht den Kopf.

      »Das ist in Ordnung so«, antwortete er.

      »Ach ja? Ich klettere im Schneckentempo auf ein Gerüst, auf dem andere tagtäglich spazieren gehen, und bin ein Held? Das ist doch Schwachsinn!«, brauste Leander auf. Er schaute auf Sophia, die immer noch neben der Bank kniete und verständnislos zu ihm aufschaute. In zorniger Ratlosigkeit schüttelte er den Kopf. »Entschuldige!«, sagte er leise. »Ich …, ich muss jetzt los.« Ohne ein weiteres Wort verließ der Orgelbauer die Kirche.

      »Was war das denn?« Verblüfft wandte Sophia sich dem Landdoktor zu.

      »Eine Stressreaktion«, antwortete er ruhig.

      »Aber es ist doch alles gut ausgegangen! Warum kann Leander sich nicht daran freuen?«

      »Das kommt noch. Er braucht einfach Zeit, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Wir sollten ihn jetzt in Ruhe lassen.«

      »Wenn du meinst …« Unschlüssig schaute Sophia auf das Portal, durch das Leander fluchtartig verschwunden war. Ihr Gefühl drängte sie, dem Mann