Wendelin schluckte, lachte und hielt eine kurze, humorvolle Dankesrede, die manchen überraschte, am allermeisten ihn selbst. »Ich freue mich riesig über eure Anerkennung, aber sind wir nicht eigentlich hier, um Kathis Geburtstag zu feiern? Genug von mir, lassen wir sie endlich hochleben!«, rief er und legte wie selbstverständlich den Arm um ihre Schultern.
Alle lachten, stimmten das Geburtstagsständchen an, und dann verteilten sich die Gäste an den vielen Tischen. Bei den Seefelds schaute sich Tochter Emilia kopfschüttelnd um. »Meine Güte, kaum ist man mal ein paar Tage mit seiner Freundin und deren Familie verreist, passieren die wildesten Dinge: Fallensteller, Freiheitsberaubung, eine verhinderte Bärenhatz – hier ist tatsächlich jede Menge los. Was ist eigentlich mit Burgl Krämser? Sie war ja nicht ganz unschuldig an dem Gerede, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Sie ist für ein paar Tage zu ihrer Schwester ins Karwendel gefahren, nachdem Kathi sie gezwungen hatte, sich bei Wendelin persönlich zu entschuldigen«, antwortete Traudel mit einem unergründlichen Lächeln.
»Oha, das ist bestimmt nicht einfach für sie gewesen«, erwiderte Anna.
»Nein«, sagte Traudel und fügte ehrlich hinzu: »Irgendwie kann ich das sogar ein wenig verstehen. Ich habe auch meine Zeit gebraucht, um zu sehen, dass Wendelin nicht mehr der heimtückische Junge ist, der unterm Tisch heimlich unseren uralten Hund getreten hat. Oder das erwachsene Großmaul, das im Leben nichts auf die Reihe brachte.«
»Es brauchte eben seine Zeit, dass Wendelin sich verändern konnte. Zeit und, ich glaube, auch einen ganz besonderen Menschen«, antwortete Sebastian lächelnd und griff nach Annas warmer und vertrauter Hand.
»Also Kathi Stübl. So wie sie ihn bei den Reden angestrahlt hat, kann nur sie es sein.« Emilia schaute sich suchend um. »Wo sind sie eigentlich? Wollte Kathi nicht jetzt ihren phänomenalen Geburtstagskuchen anschneiden, den ihre Freundinnen ihr gebacken haben?«
Das hatte sie auch vorgehabt, nur war ihr etwas Wichtiges dazwischen gekommen.
Wendelin hatte ihr das Buch noch einmal überreicht, und gemeinsam blätterten sie einige der wunderschön gestalteten Seiten um. Kathi hatte ihre Gehhilfen zur Seite gelegt, um beide Hände frei zu haben, und stand auf nur einem Bein, das eingegipste hatte sie leicht angewinkelt. Plötzlich kam sie ins Wanken und verlor fast das Gleichgewicht. Wendelin fing sie auf und nahm sie auf seine Arme. »Da habe ich mir wohl ein wenig zu viel zugemutet, ich muss mich für einen Moment hinsetzen. Trägst du mich zum Sofa hinüber in die Stube?«, bat sie.
Ich würde dich bis ans Ende der Welt tragen, dachte Wendelin. Er hielt sie behutsam fest und wünschte insgeheim, der Weg ins andere Zimmer möge kein Ende nehmen. Umsichtig setzte er sie auf dem Sofa ab und sorgte dafür, dass sie das eingegipste Bein bequem lagern konnte.
»Möchtest du allein sein und dich ausruhen?«, fragte er rücksichtsvoll.
»Nein. Ich möchte, dass du dich zu mir setzt und wir uns unterhalten«, antwortete Kathi. »Alle haben sich bei dir entschuldigt, nur ich noch nicht. Du hast ganz früh erkannt, dass Gisbert der Fallensteller ist, und ich habe den Verdacht verlacht. Du glaubst nicht, wie leid mir das tut.«
»Das ist schon in Ordnung und vergessen«, antwortete Wendelin mit einem aufrichtigen Lächeln. »Gisbert ist weg und wird die Folgen seines Handelns zu spüren bekommen. Das Jagdschlösschen bekommt einiges an modernem Komfort, und ich werde darin wohnen. Irgendwie kann ich es noch nicht so ganz glauben.«
»Freust du dich darauf?«
»Ja, sehr, obwohl ich noch gar nicht weiß, was ich mit dem ganzen Platz anfange. Eigentlich ist das Haus zu groß für mich und Streuner«, sagte er nachdenklich.
»Ich finde es gut, dass du jetzt so viel Platz hast«, antwortete Kathi und schaute ihm direkt in die Augen. »Dann kann ich bleiben und muss nicht immer wieder wegfahren, wenn wir uns treffen.«
Wendelin sah goldene Fünkchen in ihren dunklen Augen tanzen und das zarte Perlmutt, das ihre schön geschwungenen Lippen berührte. Wie im Traum hob er die Hand und fuhr zart mit den Fingerspitzen über die Konturen ihrer Wangen.
»Du kannst bleiben, solange du willst«, antwortete er atemlos.
»Jetzt gleich?« Die Fünkchen in ihren Augen wurden zu einer goldenen Flamme, die sein ganzes Leben erhellte. »Das Jagdschlösschen steht doch jetzt leer, gell? Was hältst du davon, wenn wir es heute Nacht als dein Haus einweihen?«, flüsterte sie.
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, antwortete er leise. Als sein Kuss ihre Lippen berührte, wusste Wendelin, dass sein altes Leben endgültig hinter ihm lag und die wahre Liebe auf ihn wartete.
Still und leise verließ das Paar die anderen Gäste, fuhr unbemerkt vom Hof und zu dem alten Anwesen mit seiner bewegten Geschichte hinaus. In dieser Nacht wurde das ehemalige Jagdschlösschen zu ihrem Waldhaus, in dem sie mit ihrer Liebe die Schatten der Vergangenheit aufhoben und ihre gemeinsame Zukunft begannen.
Fenja schaute auf die Berge, als sie mit ihrer Freundin Kendra auf dem Balkon frühstückte. Das kleine Einfamilienhaus, in das sie und ihre Eltern vor einem Jahr gezogen waren, lag in der Neubausiedlung von Bergmoosbach. Das Leben in dem Tal mit seinen Wiesen und Feldern am Fuße der Allgäuer Alpen sollte ihr helfen, ihre Ängste zu überwinden, die sie schon so lange plagten. Bisher aber war das nicht passiert.
»Es war doch eine gute Idee von mir, hier bei dir zu wohnen, solange deine Eltern fort sind, nicht wahr, Schätzchen«, lobte sich Kendra und streichelte über Fenjas Hand.
»Du hast deine geliebte Stadt verlassen, um mir zwei Wochen lang Gesellschaft zu leisten, das weiß ich zu schätzen.«
»Ich bin gern hier bei dir. Es ist doch schön, wenn wir beide mal wieder richtig viel Zeit miteinander verbringen.« Kendra, eine attraktive dunkelhaarige Schönheit mit hellen blauen Augen, betrachtete Fenja mit einem gewinnenden Lächeln.
»Am schönsten wäre es, wenn ich meine Eltern auf diese Reise hätte begleiten können.«
»Ich bitte dich, Fenja, was hat diese eine Reise schon zu bedeuten? Deine Eltern arbeiten als Reiseleiter für ein großes Touristikunternehmen, sie sind ständig unterwegs. Irgendwann bist du so weit und begleitest sie wieder auf die eine oder andere Tour. Das wird schon werden«, versicherte ihr Kendra.
»Ich bin da nicht so zuversichtlich wie du.« Fenja spielte mit dem Pferdeschwanz, zu dem sie ihr rotblondes Haar gebunden hatte, während sich ihre braunen Augen mit Tränen füllten.
»Du schaffst das«, machte Kendra ihr Mut.
»Ich mache aber keine Fortschritte. Seitdem wir hier wohnen, habe ich noch kein einziges Mal dieses Grundstück verlassen.«
»Du brauchst Geduld, Fenja. Agoraphobie ist kein Schnupfen.«
»Nein, sie ist eine Geisel, die mich daran hindert, ein normales Leben zu führen. Ich habe nicht nur Angst vor öffentlichen Plätzen, wie viele Leute glauben, ich habe vor allem Angst vor dem, was da draußen ist. Ich steuere bereits auf einen Panikanfall zu, wenn ich nur daran denke, dass ich weiter als in den Garten gehen soll.« Fenja umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, um das Zittern ihrer Finger auszugleichen.
»Hier bist du in Sicherheit, alles ist gut«, sagte Kendra und streichelte Fenja über das Haar.
»Ich habe meine Arbeit wegen dieses Zustandes aufgeben müssen«, seufzte Fenja, nachdem sie ihre Tasse wieder abgestellt hatte.
»Du hast eine neue gefunden, die dir Spaß macht. Oder ist das nicht mehr so?«
»Poesie für Glückskekse zu schreiben, ist nicht wirklich erfüllend, aber ich mache es ganz gern. Mein Traum, wieder als Journalistin für eine große Zeitung zu arbeiten, wird sich wohl nicht erfüllen.« Fenja belegte die beiden