»Und dummerweise unterschätzt«, erwiderte Gregor und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Auf geht’s.«
Die ganze Jagdgesellschaft musste mit aufs Revier und sich einem Haufen unbequemer Fragen stellen.
»Was geschieht jetzt mit dem armen Bären?«, erkundigte sich Wendelin mitfühlend.
»Er kommt in einen Naturpark nach Österreich, wo ihn hoffentlich ein besseres Leben erwartet, aber vorher untersuche ich ihn und werde diesen Saustall, in dem er weiter transportiert wird, saubermachen«, antwortete Rieke energisch.
»Du untersuchst ihn?«, fragte Wendelin besorgt.
Rieke blinzelte ihm zu und hob ein Betäubungsgewehr. »Vorher lege ich ihn aber schlafen«, antwortete sie.
Nachdem ihr Mann sich versichert hatte, dass das große Raubtier tatsächlich im tiefen Betäubungsschlaf lag und Rieke ungefährdet ihre Arbeit machen konnte, wandte sich Lorenz zu Wendelin um. »Danke für deine Hilfe«, sagte er herzlich. »Ohne dich hätte das hier ganz anders ausgehen können. Wenn erst einmal in der Umgebung bekannt ist, was hier losgewesen ist, wird es ein ziemliches Hallo geben. Fühlst du dich dem schon gewachsen oder möchtest du ein paar Tage freinehmen? Ich könnte mir vorstellen, dass jetzt ein bisschen Ruhe gar nicht schlecht ist.«
Wendelin dachte an das Gerede wegen Kathi, an die Fragen, mit denen man ihm an allen Ecken begegnen würde. »Die Idee ist nicht schlecht«, sagte er langsam. »Ich glaube, dass ich tatsächlich gern etwas frei hätte.«
»Das ist eine vernünftige Entscheidung«, stimmte Sebastian Seefeld zu.
»Ich glaube, Streuner und ich werden für ein paar Tage zu Schorsch auf die Grassner Alp gehen. In seinem Heustadl schläft es sich mit Sicherheit besser als im Holzschuppen«, erwiderte Wendelin.
Er und sein kluger Hund verabschiedeten sich und fuhren nach Hause. Nach einer heißen Dusche fühlte sich Wendelins Rücken schon viel besser an. Wie versprochen kaufte er Streuner ein herrliches, großes Steak, das der Hund begeistert verzehrte. Dann warf er ein paar frische Sachen in den Rucksack und fuhr zur Grassner Alm hinauf, um zwischen sich und die Ereignisse der letzten Tage ein wenig Abstand zu legen.
*
Die Ereignisse sprachen sich in Windeseile herum. Schon ehe am nächsten Tag ein großer Artikel im Bergmoosbacher Tagblatt und Berichte sogar in überregionalen Zeitungen erschienen waren, wusste man im Dorf und der Umgebung Bescheid. Wendelin Deggendorf war also ein Held, man kam aus dem Staunen nicht heraus. Einige wollten es kaum glauben, andere hatten es schon immer gewusst, die allermeisten waren froh und dankbar, dass alles so glimpflich abgelaufen war.
Kathi war fassungslos, als sie erfuhr, was sich nach ihrem Unfall beim Jagdschlösschen abgespielt hatte. Sofort rief sie Wendelin an und war sehr erleichtert, mit ihm sprechen zu können.
»Wendelin, es tut mir so leid, dass Gisbert auch dich noch am Wickel gehabt hat, und ich finde es unglaublich toll, wie du und Streuner ihn zur Strecke gebracht habt«, sagte sie mit sehr viel Wärme in der Stimme. Dann wurde sie ernst und klärte das Missverständnis mit dem Buch auf. »Meinem Vater tut es sehr leid, dass er so vorschnell geurteilt hat. Er will es dir noch selbst sagen und dich um Verzeihung bitten, aber ich wollte, dass du es jetzt schon weißt. Und dein Buch, Wendelin, das ist ein Traum, und ich hätte es sehr gern wieder zurück.«
Kathi konnte Wendelins glückliches Lächeln in seiner Stimme hören. »Das ist schön. Ich bringe es dir vorbei, wenn ich wieder im Dorf bin.«
»Denkst du daran, dass ich am nächsten Wochenende meinen Geburtstag nachfeiere?«, erinnerte Kathi ihn. »Du wolltest doch kommen, und ich hoffe sehr, dass es dabei bleibt. Ich vermisse dich, Wendelin.«
Er zögerte kurz, denn er hatte wenig Lust auf neugierige Fragen und öffentliches Interesse, aber Kathis Worte wogen alles andere auf. »Ich komme gern«, antwortete er. »Ich freu mich auf dich. Servus, Kathi, und pass auf dich auf.«
Das Gespräch war beendet, und Wendelin schaute in Gedanken versunken vor sich hin. Sein alter Freund Schorsch saß ihm gegenüber auf der Bank und beobachtete ihn über den Kopf seiner Meerschaumpfeife hinweg.
»Also du und die Kathi …«, sagte er bedächtig.
Wendelin seufzte. »So einfach ist das leider nicht.«
Schorschs blaue Augen funkelten schelmisch. »Weißt du, mein junger Freund, vieles regelt die Zeit, man muss es nur erwarten können.«
Wendelin antwortete mit ungläubigen Schweigen, und auch Schorsch sagte nichts mehr. Aus Erfahrung wusste er, dass die unglaublichsten Dinge passieren konnten, wenn man gar nicht mit ihnen rechnete.
Weit unten im Dorf wurden die Vorbereitungen für Kathis Geburtstag getroffen. Es hatte eine kleine Feier mit der Familie und wenigen Freunden werden sollen, die allmählich immer größere Kreise zog.
Es begann damit, dass Anton Stübl abends am Stammtisch gesagt hatte: »Ich hab einfach das Gefühl, dass meine persönliche Entschuldigung bei Wendelin nicht ausreicht, da müsste noch etwas anderes kommen.«
»Das sehe ich genauso, und ich hab da auch schon eine Idee«, hatte Lorenz energisch geantwortet.
Ein Wort ergab das andere, man telefonierte und organisierte und als der Samstag gekommen war, hatte man alles vorbereitet. Tische und Bänke vom ›Gamsbart‹ waren mit rot-weiß karierten Decken und roten Schleifen geschmückt, überall standen oder hingen Windlichter im Grün, und es duftete herrlich nach geröstetem Fleisch, würziger Sauce und frischem Brot. Als Wendelin kam, waren schon alle anderen Gäste versammelt und begrüßten ihn mit herzlichem Applaus.
Er war völlig überrascht und sagte verlegen: »Aber es geht hier nicht um mich, wir feiern doch Kathis Geburtstag.«
»Es geht sehr wohl um dich!«, antwortete Kathi laut und bestimmt. Sie trug ein kurzes, goldgelbes Sommerkleid, das mit grünen Farnwedeln bedruckt war, und sie leuchtete inmitten der Strahlen der Abendsonne. Zwischen ihren aufgesteckten dunklen Locken spitzten winzige Rosenknospen hervor, und wieder einmal brachte ihr unwiderstehliches Lächeln ihre Mondsichel zum Tanzen.
Wendelins Herz schmolz dahin, und er hatte Mühe, sich auf Bürgermeister Talhuber zu konzentrieren, der sich räusperte und zu einer kleinen Ansprache ansetzte. Er würdigte Wendelins Einsatz, seine Umsicht und Geduld, mit der er dem Treiben dieser unseriösen Jagdgesellschaft ein Ende bereitet hatte.
Wendelin war gerührt und ein wenig verlegen über diese öffentliche Anerkennung und staunte nicht schlecht, als jetzt auch noch Kathis Vater das Wort ergriff. Anton Stübl entschuldigte sich wegen seines vorschnellen Verdachts und erwähnte, wie fürsorglich Wendelin sich um seine verletzte Tochter gekümmert hatte. Als Dank für das, was er für Kathi persönlich und zum Schutz der Gemeinde getan hatte, überreichte Anton ihm einen stattlichen Gamsbart als Zeichen seiner Jägerwürde.
Das war in jeder Hinsicht ein großartiges Geschenk. Solch einen prächtigen Gamsbart zu besitzen, war einer von Wendelins geheimen Wünschen gewesen. Voller Freude nahm er die Trophäe entgegen.
»Diesen Schmuck hat sich Wendelin mehr als verdient«, ergriff jetzt auch noch Lorenz das Wort. »Jeder Förster, der solch einen fleißigen und zuverlässigen Mitarbeiter hat, kann sich glücklich schätzen. Bei all dem Verwaltungskram, der inzwischen zu unserem Beruf hinzugekommen ist, platzt unser Forsthaus aus allen Nähten. Deshalb hat der Gemeinderat beschlossen, das Jagdschlösschen als zweiten Dienstsitz anzumieten.« An dieser Stelle brandete Beifall auf, und man nickte zustimmend. »Das Gebäude soll nicht mehr den größten Teil der Zeit leer stehen, es braucht einen zuverlässigen, handwerklich begabten Bewohner, der sich außerdem um das große Waldgrundstück kümmert. Wer könnte das besser als Wendelin Deggendorf? Die Dienstwohnung wird mit Strom und einer Zentralheizung ausgestattet, sodass man selbst im tiefen Winter dauerhaft dort leben kann, auch ein Badezimmer wird angebaut. Was sagst du, Wendelin, kannst du dir vorstellen, dort draußen im Wald zu wohnen?«
»Mit dem größten Vergnügen«,