Er stieß Gisbert zur Seite. »Du rührst sie nicht an!« Alles Plumpe und Unbeholfene war von Wendelin abgefallen, er stand mit einer ungeahnten Klarheit und Kraft vor dem anderen Mann, der vor ihm zurückwich.
»Das hab ich nicht gewollt!«, rief Gisbert entsetzt. »Um Gottes willen, was ist mit ihr?«
Wendelin beachtete weder ihn noch die anderen, die in die Stube gestürzt kamen. Er kniete neben der jungen Frau, die mit offenen Augen zu träumen schien, und zog sie behutsam in seine Arme. »Kathi, kannst du mich hören? Verstehst du, was ich sage?«, fragte er ruhig.
»Ich …, ich bin gefallen«, murmelte sie. Ihr Gesicht verzog sich, und Tränen schossen in ihre Augen. »Mein Fuß! Mein Fuß tut so weh, ich kann ihn nicht bewegen. Ich glaube, er ist gebrochen.«
»Ganz ruhig, Kathi, das wird alles wieder gut. Ich rufe jetzt Doktor Seefeld und …«
»Nein, keinen Arzt! Ich will nach Hause, bring mich nach Hause«, rief Kathi panisch und begann haltlos zu schluchzen.
Wendelin erkannte, dass sie unter Schock stand, und drang nicht weiter in sie. Er befahl einen der schreckensbleichen Männer, den Verbandskasten zu holen und legte Kathi einen Verband an, der den verletzten Fuß für den Transport ruhigstellte. Dann schaute er Gisbert an und sagte scharf: »Deinen Autoschlüssel!« Ihm war klar, dass der Transport in seinem kaum gefederten Jeep für Kathi unerträglich sein würde. »Polstere die Rückbank so aus, dass Kathi bequem das Bein hochlegen kann«, befahl er Gisbert, der das widerspruchslos tat.
Kathi war so schockiert, dass sie immer nur weinen und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wendelin erklärte ihr ruhig, dass er sie jetzt nach Hause bringen werde, hob sie behutsam in seine Arme und trug sie zum Auto. Ohne den anderen Männern noch einen Blick zuzuwerfen, fuhr er vorsichtig vom Hof. Streuner saß brav im Fußraum des Vordersitzes und tat keinen Mucks. Über die Freisprechanlage rief Wendelin bei Sebastian Seefeld an, schilderte leise, was geschehen war und bat ihn, sofort zum ›Gamsbart‹ zu kommen.
»Ich bin schon unterwegs«, antwortete der Landdoktor.
Wendelin suchte im Rückspiegel Kathis Blick, aber sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte haltlos. Er spürte, dass er sie jetzt nicht erreichen konnte, und sprach sie nicht an, obwohl er sie von Herzen gern getröstet hätte.
Als er beim ›Gamsbart‹ hielt und die schluchzende junge Frau mit ihrer eingerissenen Bluse zum Haus trug, erregte das natürlich viel Aufmerksamkeit. Burgl schoss in den Hof, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und kreischte: »Jesses! Was hast du dem armen Madl angetan!«
Wendelin ging ruhig weiter, obwohl sein Herz bis zum Hals hinauf schlug. »Wo kann ich Kathi hinbringen?«, fragte er nur.
Anton Stübl stand schon neben ihm und dirigierte ihn in die Küche, wo Wendelin die junge Frau behutsam auf die breite, gut gepolsterte Bank bettete. »Doktor Seefeld wird gleich hier sein«, sagte er leise.
Anton beugte sich angstvoll über seine Tochter. »Kathi, Herzenskind, was ist dir passiert?«
»Ach, Papa, hätte ich nur nicht sein Geburtstagsgeschenk angenommen«, schluchzte sie und verbarg wieder das Gesicht in ihren Händen.
Anton richtete sich auf, und sein Blick war dunkel und drohend wie ein Gewitterhimmel. Er ging zum Buffet hinüber, nahm den schönen Bildband und drückte ihn Wendelin in die Hände. »Du gehst jetzt und das hier nimmst du mit«, grollte er.
»Nein, ich …«, sagte Wendelin bestürzt, wurde aber durch eine energische Geste des Vaters unterbrochen.
»Raus!« Unmissverständlich wies Anton ihm die Tür.
Wendelin warf noch einen letzten Blick auf die noch immer weinende Kathi. Es tat ihm unendlich weh, sie so aufgelöst zu sehen. Anton und Burgl wuselten um die junge Frau herum, und er konnte nichts mehr für sie tun. Er hatte nicht gedacht, dass die Situation noch schlimmer werden könnte, aber genau das war bei Kathis Ankunft zu Hause passiert. Wendelin erkannte, dass man ihm die Schuld an ihrem Zustand gab. Wortlos und tieftraurig drehte er sich um und verließ die Küche.
Im Hof begegnete er dem Landdoktor. Sebastian sah sofort, dass es auch Wendelin nicht gut ging. Er drückte ihm kurz aber herzlich die Hand. »Es ist sehr gut, dass Sie mir so schnell Bescheid gegeben haben, das wird Kathi helfen«, sagte er freundlich.
»Wenn es ihr nur bald wieder besser geht«, erwiderte Wendelin leise. Er ging zu Gisberts Wagen und fuhr bedrückt zum Jagdschlösschen zurück. Kathi war in die weiteste Ferne gerückt, sie war verwirrt und verletzt und schuld daran hatte Gisbert von Acker.
Wendelins Kummer verwandelte sich in flammenden Zorn, und als er beim Jagdschlösschen aus dem Wagen stieg, erinnerte nichts mehr an seine tiefe Traurigkeit. Er baute sich vor Gisbert auf und schaute ihn herausfordernd an. »Was ist da oben in deiner Kammer geschehen?«, fragte er eisig.
Der andere Mann einen Schritt von ihm zurück. »Nichts, gar nichts«, stammelte er. »Wie geht es Kathi? Nun sag doch, ob es ihr besser geht.«
Wendelin schaute ihn voller Verachtung an. »Kathis Bluse ist also von allein zerrissen? Und sie ist aus Spaß kopfüber die Treppe hinuntergefallen? Mann, ich konnte sehen, dass du sie gestoßen hast!«
Abwehrend streckte Gisbert beide Hände aus. »Nein, nein, das stimmt nicht, es war ein Versehen! Ich wollte sie nur festhalten!«, rief er hastig. Sein Handy, das auf dem Gartentisch lag, begann hartnäckig zu klingeln.
»Du kannst sagen, was du willst, die Polizei wird die Wahrheit herausbekommen«, erwiderte Wendelin kalt.
»Polizei? Wer redet denn hier von Polizei?«, rief Gisbert nervös.
»Falls Kathi dich nicht anzeigt, werde ich es tun«, antwortete Wendelin mit fester Stimme.
»Anzeigen? Du spinnst doch!« Gisbert rief zu seinen Freunden hinüber: »Kann mal endlich jemand an mein verdammtes Handy gehen?«, und an Wendelin gewandt fuhr er fort: »Es war ein Missverständnis, ein bedauerlicher Unfall, und natürlich komme ich für alle Kosten auf. Dafür brauchen wir doch keine Polizei.«
Wendelin bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, drückte ihm seine Wagenschlüssel in die Hand und wollte sich abwenden.
In diesem Augenblick rief Bernhard, der das Gespräch auf Gisberts Handy angenommen hatte, in die Runde: »Ich versteh kein Wort von dem, was dieser Mann gesagt hat. Gisbert, ich soll dir ausrichten, dass der Transporter langsamer als gedacht vorankommt, es gibt zu viele Staus. Der Bär wird erst morgen Abend hier sein.«
Wendelin blieb wie angenagelt stehen.
»Ein Bär?«, rief er fassungslos.
Auch die anderen Männer riefen verständnislos durcheinander. Gisbert unterdrückte einen Fluch. Jetzt war also auch noch seine Überraschung aufgeflogen, und das ausgerechnet in Wendelins Gegenwart. Mit Sicherheit würde er die allergrößten Schwierigkeiten machen.
Gisbert riss sich zusammen und versuchte, ganz cool und lässig zu wirken. »Als ich euch zur Jagd eingeladen habe, da wollte ich euch einen ganz besonderen Leckerbissen vorsetzen – eine Bärenhatz.«
Wendelin glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Du willst eine Bärenjagd veranstalten? Hier?«, fragte er ungläubig.
Auch die anderen Männer waren sehr erstaunt und riefen aufgeregt durcheinander. Gisbert verschaffte sich Ruhe und fuhr fort: »Ich habe im Osten einen jungen Braunbären gekauft, der eigentlich heute Abend hier sein sollte. Nun müssen wir unsere Jagd um einen Tag verlegen, aber das ist doch kein Problem, nicht wahr, meine Herren? Ich biete die einmalige Gelegenheit, in freier Wildbahn einen Bären zu erlegen, was für ein Abenteuer.«
»Ja, bist denn du völlig verrückt geworden?«, übertönte Wendelin die begeisterten Rufe der erlebnishungrigen Männer. »Das ist ein großes Raubtier, das nach dem tagelangen Transport ausgehungert und gereizt sein wird. Das ist kein Abenteuer, das