Skeleton Tree. Iain Lawrence. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iain Lawrence
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772546730
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und Regen geschützt, konnte die Spur lange unversehrt geblieben sein, so wie Fußabdrücke auf dem Mond. Doch sie war sicherlich nach den Winterstürmen entstanden, also irgendwann im Frühling oder Sommer. Jemand war genau wie ich an diesem Strand entlanggegangen. Er war unter den Ästen durchgetaucht und über den Baumstamm gestiegen, um auf dem Wildpfad in den Wald hochzusteigen.

      Ich rief Frank. «Hier ist jemand!» Dann folgte ich dem vergessenen Schatten des Mannes, stolperte durch den Sand, weil ich es so eilig hatte, und landete mit dem Gesicht in seinem alten Fußabdruck. Ich stand wieder auf und rannte dorthin, wo der Wildpfad begann. In der schwarzen Erde des Waldes fand ich eine weitere Fußspur im hart gewordenen Matsch.

      Mein geheimnisvoller Mann hatte sich mit einer Axt oder einem Messer den Weg durch den Wald gebahnt. Sein Pfad war überwuchert von Salalbüschen, und es war schwierig durchzukommen. Es ging an riesigen Bäumen entlang, die jahrhundertealt sein mochten, bis zu einer kleinen Hütte auf einer Lichtung – einem Häuschen im Wald.

      Über Schindeln aus Treibholz lag eine durchsichtige Plastikabdeckung auf dem Dach, die mit Fetzen von Fischernetzen befestigt war. Ein weiteres Rechteck aus Plastik diente als Scheibe für ein kleines Fenster, das mit Holz verbrettert war. Die Hütte machte einen leeren, verlassenen Eindruck. Sie hatte etwas Unheimliches an sich.

      «Hallo?», rief ich. «Hallo?»

      Von der Brandung war so wenig zu hören wie vom Wind, doch im Luftzug kräuselte sich das Plastik auf dem Dach, als würde sich die Haut einer atmenden Kreatur bewegen.

      Als ich um die Ecke bog, sah ich, dass die Tür einen Spaltbreit geöffnet war. Sie hatte in Angeln aus Seilfasern gehangen, doch zwei waren gerissen, und die Tür hing schlaff herunter wie ein gebrochener Arm und schwang im Wind, als wollte sie sich selbst zuwerfen.

      Mit den Schuhen und Wasserflaschen in der Hand steckte ich den Kopf durch die Tür. Dann taumelte ich verblüfft rückwärts.

      Ein riesengroßer schwarzer Rabe hing kopfüber auf der Schwelle. Er war mit rotem Draht verschnürt und drehte sich langsam.

      Noch nie war ich einem Raben so nahe gekommen. Er war fast so groß wie ein Truthahn an Thanksgiving und maß über einen halben Meter. Doch die Federn waren zerschlissen, und der arme Vogel sah uralt aus, wie eine Mumie. Während er sich weiter drehte, sah ich seinen Hinterkopf, an dem die Federn zerzaust und stumpf waren. Ich sah seinen Schnabel. Ich sah sein Gesicht.

      Der Rabe hatte keine Augen. Ich blickte direkt in leere Augenhöhlen, doch dadurch, dass um jede Höhle ein Ring aus winzigen, schütteren Federn verlief und in einer weißen Linie den Schädel enthüllte, sah es aus, als würde der Rabe mich anstarren.

      Ich hörte, wie Frank sich hinter mir auf dem Wildpfad näherte und durchs Gebüsch stürmte, begierig zu erfahren, was ich entdeckt hatte. Seine Jacke flatterte in seinem Rücken, als er über die Lichtung rannte. Ohne vorher anzuhalten, lief er zur Hütte und riss die Tür auf.

      Der tote Rabe drehte sich an seinem Draht.

      Frank musste denken, dass sich etwas aus der Hütte auf ihn gestürzt hatte. Er hätte beinahe geschrien, als er zum Schutz einen Arm hob. Schwarz und struppig sauste der Rabe auf ihn zu, schwang zurück und wieder vor.

      In unserem Rücken tauchte ein zweiter Rabe auf. Mit rauschendem Gefieder kam er durch die Bäume geflogen wie ein schmaler Schatten, der von dem größeren abgebrochen war. Er landete auf einem Ast, der sich unter seinem Gewicht bog, dann zog er die Flügel ein und neigte den Kopf, um nach unten zu blicken.

      Frank war es sichtlich peinlich, dass er sich erschrocken hatte, und er verfluchte den toten Raben. Wütend griff er sich einen Stock und schlug auf ihn ein. Der Vogel schoss durch die Tür und wirbelte an seinem Draht herum. Mit Schwung federte er aus der Hütte heraus und wieder hinein, während der andere Rabe von seinem Beobachtungsposten laute Rufe und Schreie ausstieß.

      Frank hob knurrend den Stock und schlug erneut auf den Raben ein. Viele kleine Federn stoben durch die Luft, und der tote Vogel drehte sich immer schneller, während der lebende im Baumwipfel zeterte. Schließlich riss der Draht, und der schwarze Kadaver fiel auf die Schwelle. Sofort hörte das Geschrei auf.

      Das alles war schnell und brutal verlaufen, und nun schob Frank den toten Vogel in der Stille zur Seite, immer weiter durch den Schmutz, und beförderte ihn mit einem gezielten Tritt ins Gebüsch. Dann wischte er sich die Hände ab und betrat die Hütte. Ich folgte ihm.

      In dem engen, dunklen Raum gab es einen wackeligen Tisch mit einem wackeligen Stuhl, die beide umgefallen waren. An eine Wand war ein Bett gebaut, dessen Schaumstoffmatratze an einer Ecke auf den Boden hing, und in der Mitte des Raumes waren Steine zu einem Kreis angeordnet. Darin lagen noch Asche und Stöcke, die an den Spitzen verkohlt waren. Doch einige Steine waren von ihrem Platz gerollt, und jemand war mit den Fingern durch die Asche gefahren. Lange Rillen zogen sich bis zur Tür.

      Der Erbauer der Hütte hatte mit Sicherheit vorgehabt, eine Weile zu bleiben. Das Dach schützte vor dem Winter und sorgte im Sommer für Schatten. Doch letztendlich war er Hals über Kopf weggegangen. Ich fühlte mich wie ein Grabräuber, als wir die Sachen durchsuchten, die er zurückgelassen hatte. Wir nahmen sie an uns: einen Campingkocher und einen Benzinkanister für Brennstoff; eine Gabel und einen Löffel, einen Blechteller, einen Topf ohne Deckel und eine kleine Laterne mit einem Kerzenstumpen.

      «Such nach Essen», sagte Frank. «Irgendwo muss etwas zu essen sein.»

      Als ich die Matratze vom Bett zerrte, fand ich nur ein Mäusenest. Frank trat ein paar Treibholzstapel zur Seite, fiel auf die Knie und schaute unters Bett. Er streckte die Hand aus und zog große Plastikplanen hervor, die zerschlissen und zerrissen waren, außerdem einen leeren Eimer und ein bisschen Holz. Nachdem er noch einmal genauer hingeschaut hatte, rief er «Ja!», streckte die Hand noch weiter aus und holte ungefähr ein Dutzend Ziplockbeutel hervor. Sie waren mit rotem Edding beschriftet: Reis, Kaffee, Rosinen, doch alle waren von Ratten oder Mäusen angeknabbert und leer.

      Unverzüglich schlug Franks Stimmung von glücklich in wütend um. Er schleuderte die Tüten aufs Bett und sah sich in der kleinen Hütte um. «Schau da oben nach», kommandierte er mich herum und zeigte auf ein Regalbrett hoch oben an der Wand.

      Ich stieg aufs Bett, streckte die Hand aus und wischte über das Holz. Auf diese Weise fielen eine Zahnbürste und Zahnpasta herunter, gefolgt von einer Klopapierrolle in einem weiteren Ziplockbeutel sowie einem schwarzen Kästchen, das von der Matratze abprallte und in der Asche landete.

      Wir starrten es an und waren einen Augenblick lang zu überrascht, um etwas zu sagen.

      Frank hob es auf und hielt es sehr fest, als wäre es ein Tier, das sich wehren könnte.

      «Ein Funkgerät», rief ich.

      «Schlaukopf!»

      Es sah fast genauso aus wie das Walkie-Talkie, das Onkel Jack mir im letzten Moment zugeworfen hatte. «Komm, lass mich mal», sagte ich.

      Ich sprang vom Bett, doch Frank drehte sich seitlich weg, um das Walkie-Talkie abzuschirmen. Als er einen Knopf am oberen Rand drückte, ging ein rotes Lämpchen an, und Ziffern leuchteten auf einem kleinen grauen Bildschirm auf.

      Wir sahen uns an und waren ausnahmsweise wie ein Team, verbunden durch das Funkgerät und alles, was es für uns bedeutete.

      Frank leckte sich die Lippen. Dann hob er das Funkgerät an seinen Mund und drückte auf den Sender. «Mayday», sagte er. «Mayday. Mayday.»

      Er ließ die Taste wieder los.

      Wir blickten unverwandt auf das Gerät. Aus dem Lautsprecher kam ein schwaches Knacken.

      «Die Rauschsperre», sagte ich und ahmte Onkel Jack nach. «Dreh den …»

      «Schnauze!», zischte Frank. «Ich weiß, was ich tue.» Er drehte an den Knöpfen für die Rauschsperre und die Lautstärke, bis aus dem Geräusch ein dröhnendes Summen wurde. Dann rief er erneut. «Mayday. Mayday.»

      Eine Frau antwortete. Ihre Stimme war leise