Skeleton Tree. Iain Lawrence. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iain Lawrence
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772546730
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ich überlegte, wie ich um ihn herumgehen sollte, doch da kam Frank auf dem Wildpfad vom Sandstrand herauf. In diesem Augenblick schwang sich der Rabe in die Luft und flog zwischen die Bäume.

      Frank war sauer. «Wo warst du?», fragte er.

      «Da hinten.» Ich zeigte auf den anderen Weg. «Da steht ein Baum mit Särgen in den Ästen. Die Skelette liegen noch drin.»

      Er sah mich zweifelnd an. «Zeig es mir», sagte er.

      «Es ist fast dunkel», erwiderte ich.

      «Na und?» Er warf sein Haar zur Seite. «Du hast doch nicht etwa Schiss?»

      Ich hasste sein gemeines Grinsen. In der Tat, die Skelette hatten mir Angst gemacht, doch das würde ich nicht zugeben. «Dann komm», sagte ich.

      Als wir endlich wieder auf der Wiese standen, war die Sonne untergegangen. Hinter den Waldgebieten ragte ein zerklüfteter Berg wie ein kauernder Riese auf, während die Skelette unter einem dunkelroten Himmel unbemerkt in ihren Kisten ruhten.

      Als Frank zu dem Baum ging, befürchtete ich plötzlich, er würde einen Ast abbrechen und auf die Skelette einschlagen.

      Doch er war ehrfürchtig und ernst und umrundete den Baum zweimal, ohne etwas zu sagen. Er schlurfte wie bei einem Beerdigungszug. Schließlich blieb er mit den Händen an den Hüften stehen und blickte zu den Särgen hoch. Der höchste war so klein, dass ein Kind darin liegen musste. Weiter unten war ein Sarg aufgebrochen, aus dem Kleidungsfetzen wie Spinnweben heraushingen. Ich sah das Skelett ausgestreckt liegen, den Schädel zu einer Seite geneigt, als würde es aufs Meer hinausschauen.

      Frank ging noch näher heran, doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Als er es merkte, lachte er. «Du hast wirklich Schiss», sagte er.

      «Nein», erwiderte ich. «Es ist eben unheimlich.»

      «Wieso?», fragte Frank. «Es ist nur ein Friedhof. Die Landschaft besteht aus so vielen Felsen und Steinen, dass die Indigenen ihre Toten auf diese Weise begruben. Das sind nur alte Knochen.»

      «Früher waren es Menschen.»

      «Und?» Frank warf den Kopf zurück. «Jeder muss sterben. Ich möchte lieber in einen Baum gesteckt als in der Erde begraben werden. Wer will schon von Würmern gefressen werden?»

      «Wer will von Vögeln angeknabbert werden?»

      Frank zuckte auf seine nervige Art mit den Schultern. Dann ging er geradewegs zu dem Baum, legte die Hand auf die schwarze Rinde und strich über den Stamm.

      «Was für ein Baum ist das?», fragte ich.

      Frank blickte nach oben durch die Äste. Er sah mich an und ging weg. «Das ist ein Skeleton Tree. Ein Skelettbaum, du Penner.»

      Der Wind ebbte ab und das Meer beruhigte sich. Die Wellen wogten mit einem Hauch an die Küste, und eine Möwe schrie auf ihrem Heimweg. Es waren Klänge, die ich kaum noch wahrnahm, Hintergrundgeräusche wie der Verkehr in der Stadt. Deshalb hörte ich recht deutlich das leise Scharren und Schaben im Baum. Bei der leichten Brise würden Äste nicht knacken. Es war ein Schürfen auf Holz, etwas Kratzendes.

      Als ich mich umdrehte, um Frank zu folgen, fiel mir etwas Merkwürdiges auf. Im Schatten des offenen Sarges konnte ich die klaffenden Augen des Skeletts sehen. Es hatte den Kopf gedreht, um zu mir hinabzuschauen.

      5

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      Der Rabe

      Selbst jetzt, Wochen später, erschauere ich bei dem Gedanken an die Skelette.

      Ich hatte Albträume von dem Versuch, es zu begreifen. Wieso liegen Särge in einem Baum? Hatte der Tsunami sie vielleicht dorthin geschleudert? Wurden die Menschen lebendig in Kisten gesteckt und dem Tod überlassen? Waren sie selbst dort hochgeklettert?

      Oder Frank hat recht. Vielleicht stand einst vor langer Zeit ein Dorf am Sandstrand, und der Baum ist nur ein Friedhof in einem Land mit vielen Felsen und wenig Erde. Möglicherweise wurden die bedeutendsten Menschen in den Zweigen dieses Skelettbaums zur Ruhe gebettet. Das ergibt mehr Sinn.

      Aber ich werde die Vorstellung nicht los, dass die Skelette nachts herabsteigen. Ich habe es bildlich vor mir gesehen, wie sie die Sargdeckel öffnen, in die Dämmerung hinausblicken und herunterklettern, um durch den Wald zu rennen.

      Was ist das für ein Geräusch hinter mir? Wenn ich mich jetzt umdrehe, werde ich dann sehen, wie sich die Gerippe wieder auf ihre Plätze begeben? Ich kann mir vorstellen, wie ein Skelett seine langen Knochen über den Kistenrand schwingt und sich wie ein Kampfpilot in sein Cockpit in den Sarg zwängt.

      Ich werde froh sein, hier wegzukommen. Aber die Skelette werde ich sicher niemals vergessen.

      Sie werden bis an mein Lebensende in meinen Träumen vorkommen.

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      Das wusste ich schon am ersten Tag, als Frank mich am Skelettbaum allein ließ. Er ging, ohne Bescheid zu sagen, und als ich mich umschaute, war er bereits auf der anderen Seite der Lichtung und kurz vorm Waldrand. «Warte auf mich!», rief ich.

      Er ging lachend weiter.

      Ich rannte los und taumelte durchs Gras. Als Frank über seine Schulter blickte und mich sah, fing er ebenfalls an zu rennen und verschwand im schwarzen Schlund des Wildpfads.

      Die Vorstellung, dass er ebenfalls Angst hatte oder sich zumindest ein bisschen fürchtete, gefiel mir. Doch das stimmte gar nicht, Frank plante nur voraus. Die Skelette waren ihm ganz egal, und er war nur vorausgelaufen, um das einzige Bett in Beschlag zu nehmen.

      Als ich endlich in der Hütte ankam, hatte er sich bereits auf der Schaumstoffmatratze ausgebreitet und die orange Kiste mitsamt Inhalt auf den Boden geworfen.

      Das gab mir einen Stich, aber da war nichts zu machen. Es gelang mir, die Tür zu schließen und festzudrücken, doch der alte Holzriegel war kaputt. Wegen des verbretterten Fensters war es in der Hütte schwarz wie in einem Grab, und ich musste mich zu der Ecke vortasten, wo ich mich auf den nackten Boden legte. Ich schlief sofort ein, wurde aber gleich wieder aufgeschreckt. Draußen bewegte sich etwas.

      «Hast du das gehört?», fragte ich. «Frank! Hast du das gehört?»

      Obwohl er im Halbschlaf war, wurde er sofort wütend. «Was soll ich gehört haben?», fragte er barsch.

      «Dieses Geräusch.»

      «Welches Geräusch?»

      Da war es wieder, ein leises Kratzen. «Da!»

      «Das ist nichts», sagte Frank. «Schlaf jetzt.»

      «Ich glaube, da draußen ist etwas», sagte ich.

      «Da draußen ist immer etwas», sagte Frank. «Das ist so im Wald.»

      Das Bett knarrte, als er sich auf die Seite wälzte. Für ihn war die Sache erledigt. Ich legte mich wieder auf den Boden, aber ich konnte unmöglich einschlafen. Stocksteif und mucksmäuschenstill lag ich da und lauschte angestrengt. Doch nichts rührte sich.

      «Frank? Schläfst du?»

      Er stöhnte. «Ja, Chris, ich schlafe.»

      Ich versuchte, einen freundlichen Ton anzuschlagen. «Glaubst du, wir kommen wieder nach Hause?»

      Er schwieg.

      «Ich glaube, ja. Wetten, dass andauernd Boote vorbeifahren? Und Wasserflugzeuge natürlich auch. Vielleicht sehen wir morgen schon eins.»

      Frank lag still auf dem Bett.

      «Wir können uns mit dem Ausschauhalten abwechseln», schlug ich vor. «Wenn