Skeleton Tree. Iain Lawrence. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iain Lawrence
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772546730
Скачать книгу
auf der Sohle.

      Stolz, wenigstens ein Problem gelöst zu haben, nahm ich die Felsen am Ende des Strandes in Angriff und kletterte immer höher, bis ich auf einer Klippe herauskam, die so hoch war, dass mir schwindelig wurde. Darunter flogen die Möwen und wiegten sich im Wind, und ich konnte sicherlich hundert Meilen weit sehen, über Wälder und Berge hinweg, ohne die Spur eines Menschen.

      In diesem Augenblick war ich mir sicher, dass wir im Norden niemals auf eine Menschenseele stoßen würden. Ich wollte Frank wiederfinden und nach Süden gehen, doch zunächst lag ein größerer, besserer Strand vor mir. Sein Sand sah aus wie goldener Zucker. Der Streifen zog sich über eine Meile an der Küste entlang, und die Brecher tosten und funkelten. Von hoch oben fühlte es sich an, als würde alles, was ich sah, mir gehören.

      Ich war unmittelbar in den Lieblingsfilm meiner Mutter geschlüpft: Robinson Crusoe. Ich konnte mir genau vorstellen, wie der Schiffbrüchige in seiner abgerissenen Kleidung aus Ziegenfell von einem Felskamm auf seine einsame Insel hinunterblickte. Meine Mutter musste bei diesem Film immer weinen. «Wir sind alle Schiffbrüchige», hatte sie eines Tages zu mir gesagt. «Wir werden auf die Felsen des Lebens geworfen, aber irgendwie überleben wir doch.»

      Ich warf einen Blick zurück auf den Hügel, den ich erklommen hatte. Etwas kam durch das Gebüsch auf mich zu und schlich sich an.

      Wölfe, dachte ich. Starr vor Angst beobachtete ich nur, wie sich das Gebüsch seitwärts neigte und niedergedrückt wurde. Ich hörte, wie die Zweige knackten. Und dann tauchte Frank zwischen zwei Bäumen auf.

      Er rannte quasi auf allen vieren den Hang hinauf – fast schon panisch –, als wäre etwas hinter ihm her. Er zog mit den Händen, schob mit den Füßen und brach stolpernd durchs Gestrüpp. Als er aufblickte und mich vor sich stehen sah, dachte ich für einen Moment, er würde wieder umkehren. Er sank ins Gebüsch, kam wieder hoch und stieg nun aufrecht den Hügel hoch. Als er bei mir war, keuchte er heftig.

      «Ich habe meilenweit nach Süden geschaut», sagte er. «Da ist niemand.» Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Also gehen wir nach Norden, und du kannst aufhören zu heulen, du kleine Heulsuse.»

      Tja, ich heulte gar nicht. Es war Frank, der irgendwie durchgedreht war, und das wussten wir beide. Er drängte sich an mir vorbei, und ich folgte ihm – es war die mir schon vertraute Reihenfolge. Doch das war mir egal geworden. Ich hatte eine interessante Beobachtung gemacht: Nicht einmal Frank wollte in der Wildnis allein gelassen werden.

      4

image

      Die Hütte

      Drei Stühle stehen an der Spitze um den Heiligen aus Holz herum. Natürlich brauchen wir nur zwei, aber es gefällt mir, dass es einer zu viel ist. Ich stelle mir vor, dass wir dort sitzen, wenn jemand uns zu Hilfe kommt. Er wird so überrascht sein, uns lebendig anzutreffen, dass er nur stehenbleiben und uns mit offenem Mund anglotzen kann. Ich werde dann auf den leeren Stuhl zeigen und höflich sagen: «Hallo. Möchten Sie sich nicht setzen?»

      Ich sehe es deutlich vor mir, ich male mir sogar die Gestalt unseres Retters aus. Er ist blond und trägt eine braune Kappe und eine dunkle Sonnenbrille.

      So stelle ich ihn mir vor, aber wenn er anders aussieht, soll es mir auch recht sein. Manchmal habe ich die Dinge so genau vor Augen, dass ich fest daran glaube, sie werden in Erfüllung gehen.

      An unserem Kühlschrank zu Hause hängt ein Zeugnis aus dem zweiten Schuljahr mit der Unterschrift von Mrs Lowe. Sie hat geschrieben:

      Christopher hat eine lebhafte Fantasie. Eines Tages wird sicher ein großer Künstler aus ihm. Ein Schriftsteller vielleicht.

      Darunter hat sie noch eine Bemerkung hinzugefügt: Christopher hat Schwierigkeiten, Freunde zu finden.

      Ich muss lachen, wenn ich daran denke. In unseren ersten Tagen in Alaska dachte ich, Frank und ich würden nie Freunde werden.

image

      Es war später Nachmittag, als wir unten am Sandstrand ankamen.

      Sobald ich meinen pinkfarbenen Flip-Flop wegschleuderte, merkte ich, dass der Sand wie eine Käsereibe meine Blasen abkratzte. Ich humpelte wie ein alter Mann. Doch ich war froh, den Wald hinter mir zu haben und nicht mehr auf den Klippen herumkraxeln zu müssen. An dem Strand, der sich über eine Meile erstreckte, brachen sich die Wellen in sahnigem Schaum. Ein Schwarm Wasserläufer trippelte an der Wasserkante hin und zurück, als hätten die Vögel Angst, sich die Füße nass zu machen.

      Frank lief dort, wo der Sand fest und nass war, und sein Schatten fiel lang über den Strand wie ein Strichmännchen. Ich blieb weiter oben, wo Tausende von Baumstämmen, von der Sonne gebleicht, dem Totenacker eines Riesen glichen.

      Es war so ein wilder Ort. In Vancouver kehrt die Stadtreinigung täglich mit einem Rechen den Sand und richtet die Baumstämme in geraden Reihen aus. Mein Vater hatte im Anzug Strandgut gesammelt, mit fliegender Krawatte. Hin und wieder hatte er wie ein Pirat geredet: «Komm, Kumpel, jetzt holen wir uns den Schatz.» Er machte ein Spiel daraus, Schrott als alte Münzen auszugeben, doch ich erwartete Holztruhen, die vor Gold überquollen, und ging immer enttäuscht nach Hause.

      Alles, wovon Onkel Jack geredet hatte, war auf dem Sand verteilt. Wir fanden Fetzen von Schleppnetzen und Leinenenden, Flaschen und Eimer und alle möglichen Gegenstände aus Plastik. Doch das ganze Zeug war mit Seepocken und Tang bewachsen, und das meiste war total kaputt. Wir hasteten von einem Ding zum nächsten und stürzten uns kreischend wie die Möwen darauf. Eine Zeit lang waren wir einfach zwei Jugendliche, die sich am Strand vergnügten. Doch allmählich wurde es deprimierend – die endlose Anzahl, die Geschichten, die sie uns zuflüsterten. Es war ein seltsamer Gedanke, dass all diese Sachen einmal Menschen etwas bedeutet hatten, die höchstwahrscheinlich tot waren.

      Ich hatte den Tsunami im Fernsehen gesehen, er hatte ganze Städte hinweggeschwemmt. Menschen waren um ihr Leben gerannt, steckten in Autos fest oder saßen auf ihren Dächern. Ich hatte die riesigen Müllberge gesehen, die durch die überfluteten Straßen ins Meer hinausgetrieben waren. Und diese Dinge bildeten jetzt unsere Umgebung.

      Ich sammelte Flaschen, die sich mit Wasser füllen ließen, und mehr Schuhe als ich jemals anziehen konnte. Es war zwar kein einziges Paar dabei, aber ich entdeckte zwei, die mir gefielen, und behielt vier weitere als Ersatz, die ich an zusammengebundene Schnüre knüpfte und um den Hals hängte.

      «Halte Ausschau nach Feuerzeugen», sagte Frank, als würde ich das nicht längst tun. Doch hier lagen weniger als erwartet, und die waren verrostet und brüchig, zerstört von Salz oder Sonne. Obwohl ich sie gegen das Licht halten und das Butangas darin sehen konnte, waren sie nutzlos.

      Am Ende des Strandes ragte eine Felsspitze ins Meer, auf deren Rücken sich ein paar Bäume im Wind wiegten wie ein gesträubtes Hundefell. Ein Weißkopfseeadler rauschte darüber hinweg, gefolgt von einem Raben, der wie eine Krähe schrie und im Sturzflug auf den Kopf des Adlers niederging, abdrehte und erneut angriff. Auf diese Weise scheuchte er den großen Vogel über den Himmel.

      Frank blieb stehen, um ihnen zuzuschauen. Dann setzte er sich am Ende des Strandes auf einen Baumstamm.

      Falls er sich dort für die Nacht einrichten wollte, sagte er es zumindest nicht. Doch nicht Frank, der Schweigsame! Deshalb ging ich weiter und überlegte, die Gegend hinter der schmalen Landspitze zu erkunden. Ich hielt mich zwischen den Stämmen, bis ich auf einmal einen Wildpfad entdeckte, der durchs Gebüsch aufwärts führte. Ich duckte mich unter den hängenden Ästen eines halb umgefallenen Baums hindurch und richtete mich wieder auf, um über den letzten Baumstamm zu steigen.

      Dann hielt ich ruckartig an, mit dem Fuß in der Luft.

      Direkt vor mir war eine menschliche Fußspur im Sand.

      Sie