Skeleton Tree. Iain Lawrence. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Iain Lawrence
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783772546730
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um meine Knöchel rauschte.

      Die Schöpfkelle aus Plastik hatte sich mit den Rudern verheddert. Ich riss sie von der Schnur und schöpfte Wasser aus dem Boot. Andauernd schaute ich auf meine Uhr, bis ich merkte, dass sie stehengeblieben war. Der Anblick der reglosen Zeiger machte mich wütend und raubte mir die Hoffnung. Ich legte den Kopf in den Nacken und brüllte das Meer und den Himmel an.

      Bei Sonnenuntergang flaute der Wind ab, die Wellen wurden flacher, und wir liefen nicht mehr Gefahr zu kentern. Aber meine Angst steigerte sich ins Unermessliche, während ich zusah, wie der Himmel sich rot färbte. In dem winzigen Boot, weit entfernt vom Land, fragte ich mich, was Onkel Jack zuletzt wohl gesehen hatte. Und schwammen etwa alle Menschen, die ins Meer geschleudert worden waren, um uns herum?

      In jeder Hinsicht trieb ich hilflos im Dunkeln, ohne zu wissen, wohin die Reise ging und was ich am Ziel vorfinden würde. Ich wünschte sehnlichst, ich wäre zu Hause bei meiner Mutter. Vermutlich stand sie an dem großen Wohnzimmerfenster, blickte in dieselbe Dunkelheit hinaus und dachte an mich, so wie ich an sie. Doch sie hatte keine Ahnung, dass ich auf dem Meer herumirrte. Sie glaubte sicher, ich würde fröhlich mit Onkel Jack segeln.

      Die Dunkelheit setzte ein. Dann überstrahlten die Sterne den schwarzen Himmel – mehr Sterne, als ich je gesehen hatte. Dazwischen schwebten Satelliten mit einer stillen, stetigen Beharrlichkeit, die eine fürchterliche Einsamkeit in mir hervorrief.

      Frank saß die ganze Zeit starr am anderen Ende, und die Umrisse seiner Gestalt zeichneten sich vor den Sternen ab, wenn die Wellen das Boot anhoben. Da ich vor Kälte zitterte, schlang ich meine durchweichte Jacke enger um mich und rieb mir die Arme, um ein wenig Wärme zu erzeugen.

      Im Morgengrauen sah ich Wolken in der Ferne. Und unter den Wolken war Land, eine Reihe zerklüfteter Berge mit schneebedeckten Wipfeln. Die Strömungen und Winde drückten uns in die richtige Richtung, aber es ging so langsam voran, dass ich befürchtete, wir würden die Küste niemals erreichen. Franks Finger waren weiß und verschrumpelt und glichen ertrunkenen Würmern, eingehakt über dem Bootsrand. Seine Zähne klapperten, um seine Augen zuckte es, und er erschauerte immer wieder. Ich hatte furchtbare Angst, dass er sterben würde. Wie sollte es dann weitergehen? Ich konnte nicht mit einem toten Jungen in diesem Boot sitzen, doch wie sollte ich ihn über Bord werfen und zusehen, wenn er in der blauen Dunkelheit des Meeres unterging?

      Ich löste die Ruder aus ihrer Halterung und begann zu rudern. Stunden über Stunden ruderte ich mit dem Boot. Ich bekam Blasen. Meine Hände brannten von dem Salzwasser, das an den Rudern herabrann. Die Seiten des Bootes verzogen sich nach innen, bis Bläschen an den Ecken nach oben quollen. Wasser drang durch den Boden. Rudern würde das Boot zerstören, doch ich hatte keine andere Wahl.

      Am Ende des Tages sahen die Berge gewaltig aus. Das Land machte einen wilden, unbewohnten Eindruck, und als die Sonne unterging, schien kein einziges Licht an dem breiten Küstenstrich, nirgends gab es ein Zeichen von menschlichem Leben. Später frischte der Wind wieder auf, die Wellen wogten höher, und kurz vor der Morgendämmerung hörte ich das Rauschen einer Brandung.

      Ich hob den Kopf, um den Blick schweifen zu lassen. Im bleichen Mondschein tauchten gespenstische Gischtwolken auf. Die Brandung wurde lauter, und ich entdeckte Schaumfetzen auf den Kämmen riesenhafter Wellen. Das Boot sauste wie ein Schlitten durch die Dunkelheit. Ich zog die Jacke aus, weil ich hoffte, ohne sie besser rudern zu können, und versuchte, das kleine Boot vom Land wegzusteuern. Doch wir wurden in die Brecher hineingezogen, und schon donnerte der erste auf uns herab.

      Als ich ins Meer geschleudert wurde, flogen die Ruder fort. Vor Kälte schnappte ich nach Luft und kämpfte mich zurück an die Wasseroberfläche. Ich drosch mit den Händen, bis ich das Boot zu fassen bekam. Umgestülpt wölbte es sich wie eine Schildkröte aus dem Meer, und ich packte seinen schmalen Kiel und hielt mich fest.

      In drei Meter Entfernung trieb Frank mit dem Gesicht nach unten in der grauen Gischt der Brecher. Sein schwarzes Haar glänzte matt und glatt. Seine von der Luft aufgebauschte Jacke blähte sich am Rücken und hielt seine Arme ausgebreitet auf dem Wasser. Ich konnte mich am Boot festhalten und an die Küste treiben lassen – oder ich konnte meine letzte Hoffnung fahren lassen und versuchen, Frank zu retten. Doch ich dachte kaum darüber nach, drückte mich vom Boot ab und packte Frank. Dann hielt ich seine Jacke, seinen Kragen und seine Arme fest, als eine Welle über uns hereinbrach und uns auseinanderreißen wollte.

      Schlagartig wurde er wach.

      Er schüttelte den Kopf wie ein Hund und schleuderte das Wasser aus seinem Haar. Seine Augen wurden unglaublich groß. Und dann klammerte er sich an mir fest und presste meine Arme an meine Seiten.

      Ich konnte nicht schwimmen. Ich konnte uns nicht einmal mehr oben halten. Doch je mehr ich darum kämpfte, von ihm wegzukommen, umso kräftiger versuchte Frank, sich an mich zu klammern. Wir gingen zusammen unter und wurden von der nächsten Welle noch tiefer gedrückt. In einer erstarrten Dunkelheit wurden wir immer wieder herumgewälzt, bis das Wasser uns über die Felsen am Meeresgrund zerrte und schließlich an die Oberfläche zurückwirbelte. Ich rang nach Luft, legte einen Arm um Frank und hielt seinen Kopf über Wasser.

      In dieser Brandung waren wir nur winzige Wesen, die hin und her geworfen, verprügelt und geschlagen wurden. Wir waren ein Spielball der Wellen, doch jede brachte uns näher an Land, und die siebte – oder achte oder neunte – wuchtete uns auf einen Steinstrand. Kollernd und rasselnd zog sie sich zurück und ließ uns gestrandet liegen.

      Ich hörte das Dröhnen der nächsten anrollenden Welle, die uns noch höher an den Strand trug, dann aber versuchte, uns wieder mitzunehmen, als sie in einem gurgelnden Rauschen zwischen den Steinen zurückfloss. Ich schnappte mir einen Felsen und hielt mich fest.

      Welle über Welle rollte an, um uns zu packen. Sie zogen mir die Stiefel aus, einen nach dem anderen. Sie rissen Frank aus meinen Armen und zerrten ihn den Strand herab. Er schlitterte mit ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken über die vom Mond beschienenen Steine und brüllte, ich solle ihn retten. Ich bekam sein Bein zu fassen und kroch wie ein Krebs am Strand nach oben, krabbelte immer ein Stückchen höher.

      Meine Hände bluteten und in meinem Knie pochte es. Doch ich rückte immer weiter vom Meer ab, während Frank mir kriechend folgte wie eine grausige Kreatur, die aus der Tiefe gekommen war. Als wir am oberen Rand des Strandes eine Klippe entdeckten, setzen wir uns und lehnten uns an.

      Ich konnte es nicht fassen, wie schnell ich aus einem normalen Leben in meinen schlimmsten Albtraum geschlittert war. In der Wildnis gestrandet – und das mit einem Jungen, der kaum noch lebendig war und den ich überhaupt nicht kannte.

      Im Morgengrauen blickte ich auf eine trostlose Welt. Die Wellen schlugen donnernd in die Bucht und warfen sich gegen die Felsen, die unter uns lagen.

      Ein Streifen aus Seetang und Meeresalgen zog sich wie ein Seil am Fuß der Klippe entlang. Doch es gab kein einziges Stück Treibholz, was mich zunächst in Verwirrung stürzte. Doch dann begriff ich, was es bedeutete: Bei Flut würde der Strand vollständig überschwemmt. Die Bucht würde sich füllen wie ein riesiger Eimer, und wir würden wie Mäuse darin ertrinken.

      Ich drückte mit der Hand gegen Franks Schulter. «Steh auf», sagte ich.

      Stöhnend schob er meine Hand weg, doch er hob den Kopf und schaute sich um. Dann schleppte er sich zu der Klippe und legte eine Hand an den Felsen, wo ein Rinnsal ihn schwarz und glänzend erscheinen ließ.

      Nach kurzer Zeit füllte sich Franks Handfläche. Er schlürfte das Wasser auf und füllte nach, während ich mich neben ihn stellte und das Gleiche tat. Gemeinsam tranken wir Wasser von dem Gestein.

      Als wir unseren Durst gestillt hatten, wandte Frank seine Aufmerksamkeit den Algen zu und zog ein paar Blätter aus dem Haufen. Sie sahen aus wie Salat, der im Gemüsefach verwelkt war, doch Frank schüttelte die Steinchen, Zweige und winzigen Muscheln ab. Dann steckte er die Algen in den Mund. Bei dem Kaugeräusch gurgelte es in meinem Magen. Seit dem Abend auf der Puff hatte ich nichts mehr gegessen.

      «Woher weißt du, dass man das essen kann?», fragte ich.

      Er sah mich an, als wäre