»Wering? Sie sind der Mann, der im Wald war, als wir bestohlen wurden?« Die Frau blieb vor Ingvar stehen und musterte ihn mit ihren großen blauen Augen.
»Was wurde Ihnen den gestohlen?«, fragte er verwundert.
»Bitte, nicht ganz so naiv. Egal, es ist nicht meine Aufgabe herauszufinden, was Sie wissen.«
»Miri, bitte, lass das«, bat Sebastian die Erbin des Bergmoosbacher Sägewerks.
»Schon gut, ich halte mich zurück«, sagte Miriam und lief weiter den Gang entlang, während Ingvar ins Sprechzimmer ging.
»Schau an, die Miriam, hattest du auch einen Termin?«, meldete sich Therese wieder aus dem Wartezimmer, als sie Miriam sah.
»Sebastian und ich stehen uns eben sehr nah, meine herzallerliebste Therese.«
»Pass auf, dass du nicht ins Stolpern gerätst, wenn du ihm so nahe stehst.«
»Dann wird er mich auffangen«, entgegnete Miriam lächelnd.
»Glaub halt dran.«
»Lass sie, sie ist heut ein bissel schlecht gelaunt«, raunte Gerti Miriam zu, während sie ihr ein Rezept reichte. »Die Salbe dreimal am Tag auftragen und den Verband wieder anlegen.«
»Ja, mache ich, danke. Sehnenscheidenentzündung, damit du nicht rätseln muss«, klärte Miriam Therese auf, die auf den Verband an ihrem Handgelenk starrte. »Schönen Tag noch«, sagte sie und schwebte auf den hohen Pumps, die sie zu ihrem weißen Kostüm trug, aus der Praxis.
»Jetzt geh einmal her zu mir, Therese«, sagte Gerti, als die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins wieder missmutig zu Boden starrte.
»Ja, bittschön, was willst du?«, fragte Therese, als sie aufstand und zum Tresen ging.
»Du bist doch sonst nicht so biestig. Was ist los mit dir?«, fragte Gerti leise.
»Ich hab Magenschmerzen, das macht halt schlechte Laune.«
»Sobald der junge Mann aus dem Sprechzimmer kommt, bist du dran, in Ordnung?«
»Dankschön, Gerti«, sagte Therese und ging wieder ins Wartezimmer.
*
Ingvar saß auf der Untersuchungsliege im Sprechzimmer, während Sebastian seinen Knöchel abtastete.
Er musste erst einmal sacken lassen, was der Arzt ihm gerade erzählt hatte.
»Mir war wirklich nicht bewusst, dass es sich um einen Holzdiebstahl gehandelt hat«, sagte er.
»Ich habe auch gerade zum ersten Mal von diesen Holzdiebstählen gehört, die sich in den letzten Wochen in den Wäldern der Gegend häufen. Der Bergmoosbacher Forst gehört ja zum größten Teil der Familie Holzer, und da es nun auch sie getroffen hat, sind sie verständlicherweise in Sorge, dass das nur der Anfang war. Sie sind offensichtlich der erste Zeuge, der die Diebe gesehen hat.«
»Umso bedauerlicher, dass ich nicht helfen kann.«
»Das lässt sich nicht ändern. Bewegen Sie Ihren Fuß bitte vorsichtig in jede Richtung und sagen Sie mir, wann es wehtut«, bat Sebastian. Da Ingvar kaum noch Schmerzen im Knöchel verspürte, ließ Sebastian ihn behutsam auf den Boden auftreten.
»Es ist nur noch ein bisschen unangenehm, nicht mehr wirklich schmerzhaft«, sagte Ingvar.
»Dann können Sie es mit einer Krücke versuchen. Sollten die Schmerzen aber wieder schlimmer werden, dann verringern Sie die Belastung«, riet ihm Sebastian.
»Das mache ich.«
»Gut, dann legen Sie sich noch einmal hin. Ich möchte nachsehen, was die Rippenprellung macht«, sagte Sebastian.
»Da bin ich noch ein bisschen schmerzempfindlich«, stellte Ingvar fest, als Sebastian ihn behutsam untersuchte.
»Das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit Ihrer Atmung klappt es schon wieder recht gut«, sagte Sebastian, nachdem er ihn mit dem Stethoskop abgehört hatte.
»Wenn ich mich nicht allzu viel bewege und ablenke, denke ich gar nicht mehr darüber nach, die Schmerzen sind dann auch erträglich.«
»Frau Regner trägt sicher auch einiges dazu bei, dass Sie sich besser fühlen«, sagte Sebastian lächelnd.
»Ja, das tut sie. Erst dachte ich, sie fühlt sich irgendwie verpflichtet, sich um mich zu kümmern, weil sie mich gerettet hat. Aber das denke ich jetzt nicht mehr.«
»Nein, das denke ich auch nicht, dass das der Grund ist«, stimmte Sebastian ihm zu. »Im Moment kann ich nichts weiter für Sie tun. In vierzehn Tagen sehe ich mir die Prellung noch einmal an. Mit Ihrem Knöchel dürften Sie dann keine Probleme mehr haben.«
»Danke, Doktor Seefeld«, sagte Ingvar und zog sein Hemd wieder an, das er zur Untersuchung ausgezogen hatte.
»Hallo, das geht nicht, bleiben Sie sofort stehen!«, hörte Sebastian Gerti plötzlich draußen im Gang rufen.
Im nächsten Moment flog die Tür auf.
»Was soll das werden?«, fragte er und sah die beiden Männer in den grauen Anzügen, die in der geöffneten Tür stehen blieben, verblüfft an.
»Wir suchen Ingvar Wering. Ist er bei Ihnen?«
»Kommissar Brenner, Herr Schnipper, was ist denn los?«, fragte Ingvar, als er von der Liege aufstand und sah, wer da in der Tür des Sprechzimmers stand. »Das sind die Polizisten, die nach dem Unfall bei mir waren«, klärte Ingvar Sebastian über die beiden ungebetenen Besucher auf.
»Ihre Nachbarin sagte uns, dass wir Sie hier finden. Wir müssen mit Ihnen reden«, erklärte Kommissar Brenner.
»Deshalb fallen Sie hier einfach so ein?«, äußerte Sebastian seinen Unmut über das Verhalten der beiden.
»Wir mussten sicherstellen, dass der Verdächtige nicht entkommt.«
»Was soll ich denn getan haben?«, fragte Ingvar erschrocken.
»Wo können wir reden?«
»Gehen Sie auf die Terrasse drüben am Haus, dort sind Sie ungestört«, sagte Sebastian, der die Polizisten so schnell wie möglich aus der Praxis haben wollte, damit die Gerüchteküche im Wartezimmer nicht überkochte.
»Danke, entschuldigen Sie die Störung, Doktor Seefeld«, sagte Herr Schnipper, während der Kommissar Ingvar am Arm packte und aus dem Zimmer zerren wollte.
»Lassen Sie das, Herr Wering hat eine Knöchelverletzung, er braucht seine Krücke«, mischte sich Sebastian gleich ein.
»Dann nehmen Sie Ihre Krücke«, forderte Kommissar Brenner Ingvar missmutig auf.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Fabia, die im Gang auf Ingvar gewartet hatte und nun ins Sprechzimmer kam.
»Und wer sind Sie?«, wollte Kommissar Brenner wissen.
»Fabia Regner.«
»Die Dame, die mit Herrn Wering im Wald war?«
»Wenn Sie es so nennen wollen.«
»Gut, dann kommen Sie gleich mit. Wir haben auch an Sie einige Fragen«, sagte Kommissar Brenner.
»Über den Hof, dann zur Wiese vor dem Haus«, wandte sich Sebastian an Herrn Schnipper.
»Finden wir«, sagte Herr Schnipper und folgte dem Kommissar.
»Traudel, du bekommst gleich Besuch«, kündigte Sebastian per Haustelefon der guten Seele der Seefelds an, die sich um die Familie und den Haushalt kümmerte. »Zwei Zivilbeamte der Polizei, die den jungen Mann verhören wollen, der den Unfall im Wald hatte.«
»Ist recht«, sagte Traudel und legte wieder auf.
Gleich darauf schallte lautes Hundegebell über den Hof.