Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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begann sie, zögernd, denn ihr war bewusst, dass sie ihr Anliegen zu keiner günstigen Stunde vorbrachte, »was ich dich fragen wollte...«

      »Ja?«

      »Könnten wir Blitz nicht eine andere Arbeit geben? Das Pflücken langweilt ihn, das weiß ich.«

      »Und woran hast du gedacht?« Sie blickte ihre Tochter aufmerksam an und weder ihr Gesicht noch ihre Stimme verrieten, was sie dachte. Aber Mino kannte sie gut genug, um ihre Missbilligung zu spüren.

      »Ich weiß nicht, ich dachte... Könnten wir nicht die Fracht nach Deret-Aif begleiten? Du hast unlängst noch gesagt, dass dir Männer zum Entladen auf den Märkten fehlen.«

      »Wir?«

      Mino begann zu schwitzen, wie immer, wenn ihre Mutter sie so ansah. »Nun, ich dachte, wir beide, Blitz und ich...«

      »Nein«, sagte Binajatja und schüttelte den Kopf. »Ich habe gesagt, ich brauche Männer dafür. Starke Männer, keine Jungen. Und vor allem keine Mädchen. Dich brauche ich hier, Mino. Jetzt, wo Lexan nicht mehr da ist, musst du dich mit der Buchführung vertraut machen.«

      Mino nickte. Irgendwie hatte sie gewusst, dass sie das zu hören bekommen würde. Es war ein schöner Traum gewesen, dass sie und Blitz sich auf eine gemeinsame Reise ins Innere des Landes machten und dort ihr Band der Freundschaft erneuerten, bis sie wieder das waren, was sie sein mussten: Freunde. Sie seufzte innerlich. Leider nur Freunde.

      »Und Blitz?«, fragte sie vorsichtig. »Könnte er nicht wenigstens...?«

      Vielleicht würde er ihr dann verzeihen, wenn er die Gelegenheit bekam, etwas von der Welt zu sehen. Mino wusste, wie rastlos Blitz war und wie sehr es ihn in die Ferne zog.

      »Blitz? Das ist doch nicht dein Ernst.« Binajatja schüttelte den Kopf; diesmal zeigte sie ihren Ärger überdeutlich. »Zuverlässigkeit: nicht vorhanden. Verantwortungsbewusstsein: nicht vorhanden. Die Fähigkeit, sich den Anweisungen von Vorgesetzten unterzuordnen: nicht vorhanden. Was soll ich mit einem wie ihm machen? Ich werde ihn entlassen und ganz bestimmt nicht befördern. Sei so gut und richte ihm das aus.«

      »Ich soll was?«, fragte Mino entsetzt.

      »Sag es ihm. Du kennst ihn, du weißt, wie du es ihm beibringen kannst. Wir beide leiten diese Gärten, Mino, du und ich. Wir können keine Arbeiter gebrauchen, die ihre Aufgabe nicht ernst nehmen. Also geh und sag es ihm.«

      Mino ließ den Kopf hängen und ging mit schleppenden Schritten hinaus; die Aufgabe schien an ihren Füßen zu hängen, schwer wie ein Bleigewicht.

      Ich hätte ihn gehen lassen müssen, dachte sie auf einmal, aber nun ist es zu spät.

      Sie trat aus der Haustür und blickte in den Sternenhimmel über sich. Die Luft war warm und erfüllt von vertrauten Gerüchen nach Meer und Blumen. Der feine Kies des Pfades knirschte unter ihren Schuhsohlen, während sie den Weg an den Gärten vorbei zum Wald einschlug. Selbst bis hierhin konnte sie das Rauschen der Brandung hören, dieses Lied, das sie nie verließ, das so sehr mit ihr verbunden war, dass sie sich nicht vorstellen konnte, es könnte je aufhören. Deret-Aif, dachte sie. Wie wäre es, mit den Wagen durchs Kaiserreich zu ziehen, auf ihren gepflasterten Straßen, und die Märkte aufzusuchen, vielleicht sogar bis nach Aifa, dem Land des Kaisers, bis in die große Stadt Kirifas, ins Herz des Reichs, wo Kaiser Kanuna El Schattik Hof hielt. Wie würde es sein, durch die riesigen Wälder zu reiten, hinter sich die duftende Fracht. Das war ihr gemeinsamer Traum gewesen, ihrer und Blitz’ Traum. Nicht das Schiff und nicht das Meer. Bevor Lexan Blitz dafür begeistert hatte, mit der Weißen Möwe nach Rinland zu fahren, hatten sie beide immer davon gesprochen, dass sie eines Tages das Festland erkunden würden. Sie würden eintauchen in die Wälder und Berglandschaften, sie würden die Städte sehen und die großen Flüsse, die ins Meer mündeten, sie würden auf den Märkten exotische Früchte kosten und fremde Gewürze riechen, süß und scharf, sie würden in helle und dunkle Gesichter blicken und die Schönheit der Mädchen vergleichen. Und vielleicht würden sie sogar den Riesenkaiser selbst sehen und endlich wissen, ob er wirklich so groß war wie zwei Männer...

      Mino lächelte, während sie unter den Bäumen ging und sich unter die tiefen Äste bückte, und beim Lächeln spürte sie wieder den Riss in ihrer Lippe. Sie wusste, warum ihre Mutter Blitz entlassen wollte, obwohl sie nicht gefragt hatte, mit wem sie sich geprügelt hatte. Ein Junge, der ein Mädchen schlägt... Es gab wenige Dinge, die auf der Insel Arima lange verborgen blieben.

      Die kleine Hütte unter den weit herabhängenden Ästen des alten Baumes gehörte jedoch dazu. Die Obstbäume waren klein und knorrig, sorgsam beschnitten, aber der einzige Wald auf der Insel wucherte und wuchs kreuz und quer, ein Baum so unbändig wie der andere, ein Geflecht aus den unterschiedlichsten Stämmen und Ästen, von Strauchwerk und Brombeergestrüpp unterlegt. Es war ein Stück Wildnis, und dieser Baum am Waldrand war – jedenfalls, als sie noch Kinder gewesen waren – der König der Bäume.

      Mino schob die Zweige beiseite und trat in den Raum darunter, der sich wie eine Kuppel über ihr wölbte. Die Hütte hatten sie in die Astgabel gebaut, die so breit und flach war wie eine ausgestreckte Riesenhand. Sie war klein, aber groß genug, um zu zweit darin zu schlafen; allerdings hatte Blitz schwören müssen, niemals eins seiner Mädchen mit hierher zu nehmen.

      Die Hütte war leer. Tief in ihrem Inneren hatte Mino gehofft, Blitz wäre gekommen, um hier vor El Jati Ruhe zu haben und sich mit ihr zu treffen und zu versöhnen. Sie hatten sich oft gestritten und oft versöhnt. Meistens war es Blitz gewesen, der den Streit begonnen, und Mino, die ihn beendet hatte, aber ihre Freundschaft hatte alle Auseinandersetzungen überlebt.

      Sie legte sich auf die Decken, die immer noch hier lagen, mittlerweile von Spinnen und anderen Insekten als Wohnung auserkoren, aber das störte sie nicht. Der Geruch des Holzes war hier drinnen sogar stärker als der allgegenwärtige Salzgeruch des Meeres. So duftete ihre Freundschaft: nach Harz und Erde und lauen Sommernächten, nach Regen und Gewitterstürmen. Es durfte nicht sein, dass das alles endete. Musste mit dem Erwachsenwerden denn alles zu Ende gehen, was gut gewesen war? Blitz würde es verstehen, dass Binajatja ihn entließ. Hatte er nicht selbst die ganze Zeit darauf hingearbeitet? Er würde verstehen, dass es Binajatjas Entscheidung war, nicht Minos. Ihre Freundschaft würde auch das überstehen.

      Am Nachmittag hatte sie die Figur der weißen Möwe hierhergebracht. Sie war immer noch da, auf demselben Platz. Niemand war hier gewesen und hatte sie in die Hand genommen und betrachtet... Blitz war nicht gekommen. Mino legte ihre Finger um das harte Holz und fühlte die Schwingen in ihrer Handfläche. Geboren, um zu fliegen...

      Sie brauchte lange, um einzuschlafen. Um nicht an Lexan zu denken und an den hellen Fleck am Horizont, in den sich die Weiße Möwe verwandelte, dachte sie an Blitz – nicht an ihren Kampf, nicht an Blitz’ Verwunderung und Empörung, sondern an all das, was sie tun würde, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und doch war es letztendlich das Schiff, von dem sie träumte, ein weißes, glitzerndes Boot, das durch die Wellen schnitt, leicht und heiter, unter der Pracht der Sterne. Das Knarzen des Holzes, wenn sie sich im Schlaf bewegte, wurde zur Weißen Möwe, die durch das Wasser glitt. Mino war dort, denn natürlich war sie mitgekommen, so wie es sein musste. Sie lag an Deck und lauschte ihren Freunden, die noch nicht schliefen. Im Traum hörte sie Jußaits Lachen, sie hörte Bajads tiefe Stimme und sie hörte Lexans Schweigen. Die Nacht lag über ihr, hell und freundlich, und sie fühlte das Mondlicht auf ihrem Gesicht.

      Am nächsten Morgen kehrte Mino ins Haus zurück, wusch sich und zog sich um. Die hölzerne Möwe hatte sie wieder mitgebracht und steckte sie in die Schürzentasche ihres neuen, sauberen Kleides; sie war wie ein Versprechen, dass alles gut werden würde.

      »Sie wird zurückkommen«, versprach sie sich selbst. »Die Weiße Möwe wird zurückkommen. Lexan wird einsehen, dass das Boot nicht hochseetauglich ist, und wird zurückkommen.« Mino fühlte sich voller Zuversicht, dass sie die Angelegenheit mit Blitz bereinigen konnte, und machte sich noch vor dem Frühstück auf den Weg zu El Jatis und Alikas Haus.

      Diesmal war es El Jati, der ihr öffnete. Er sah müde und übernächtigt aus, um seine Augen lagen dunkle Ringe. Er blickte Mino nur