Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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sie in den Wellen aus, dann watete er hinein. Es war kühl hier am Ufer; nur wenige Meter weiter zog der warme Strom vorbei, dem die Glücklichen Inseln ihr warmes Klima verdankten und ihr im ganzen Kaiserreich berühmtes Obst. Auf Neiara wurde auch Wein angebaut, aber hier auf Arima waren es die Früchte, auf denen sein Bruder und seine Schwägerin und viele andere ihr Leben aufgebaut hatten. Wie eine Königin herrschte Binajatja, Minos und Lexans Mutter, über die Insel, waren es doch ihre Vorfahren, die sich zuerst von der Fischerei abgewandt und Gärten angelegt hatten. Die Plantagen ernährten einen großen Teil der Inselbewohner, die übrigen lebten weiterhin vom Fischfang. Einer dieser Fischer war Re gewesen, ihr gewählter Anführer, und Blitz hatte sich erzählen lassen, dass es nie ein größeres Fest auf Arima gegeben hatte als die Hochzeit des Fischerkönigs mit der Apfelkönigin.

      Als er spürte, wie ihm das warme Wasser um die Beine spülte, schloss Blitz die Augen. Er wusste genau, bis zu welcher Stelle er sich treiben lassen durfte, bevor er in die gefährliche Strömung geriet, die ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an die Klippen schmettern würde. So ruhig war es hier, niemand, der sich hier nicht auskannte, würde die Gefahr von sich aus erkennen. Das Wasser war so warm und beruhigend... Noch ein wenig, noch ein wenig treiben lassen... Blitz öffnete die Augen und sah, dass er schon längst hätte umkehren müssen. Es erschreckte ihn nicht, denn im Grunde hatte er es so gewollt. Er wollte die Gefahr spüren, er wollte den Elementen sein Leben abringen, immer und immer wieder, und dabei lebendig sein, am Rand des Todes. Seit jener Nacht am Steilhang, der er seinen Rufnamen verdankte, hatte er die Herausforderung gesucht – mit dem Wasser, dem Wetter, dem Leben selbst. Damals hatte ihn das Gewitter draußen überrascht. So sehr hatte er immer darauf geachtet, in der Nähe des Hauses zu sein, wenn ein Sturm aufzog, um so schnell wie möglich in seinem Schutzkeller zu verschwinden, aber dieses Mal hatte er nicht auf den Himmel geschaut. Er war mit einem Auftrag in eins der südlich gelegenen Dörfer geschickt worden, hatte auf dem Rückweg die Zeit vergessen und einen Abstecher zu den Steilklippen gemacht, dorthin, wo sich die Insel am höchsten erhob und als steiler Fels über den Strand ragte. Wenn man von hier nach unten sah – wenn man denn schwindelfrei genug war, um so nah an die gefährliche Kante zu treten – konnte man dort unten bei Ebbe ein kleines Stück Strand sehen, übersät von Steinen, Muscheln und verschiedenartigem Strandgut. Wenn die Flut hereinkam, brach sich das Wasser ohrenbetäubend laut an den Felsen. Vielleicht hatte er aus diesem Grund den Donner nicht gleich gehört, als er dort lag, bäuchlings, und fasziniert nach unten starrte. Als das Gewitter dann mit Macht lostobte, war es zu spät, um nach Hause zu laufen. Er wagte nicht einmal, sich aufzurichten, hier oben, am höchsten Punkt der Insel, wo nichts wuchs außer Gras und niedrigem Gebüsch. Während die Blitze über ihm zuckten und den Himmel mit glühenden Fingern zerrissen, hatte er das Gesicht ins nasse Gras gepresst und um sein Leben gezittert. Doch es hörte nicht auf, lange nicht, und schließlich hatte er sich auf den Rücken gedreht und dort oben auf dem Steilhang liegend dem Sturm ins Gesicht geblickt. Er hatte die Blitze gesehen und sich von ihrer Macht blenden lassen, er hatte das Krachen des Donners mit seinem ganzen Leib gespürt, und während der Regen auf ihn herunterprasselte, waren seine Tränen versiegt. Als ein anderer war er früh am nächsten Morgen nach Hause zurückgekehrt, wo El Jati und Alika schon sorgenvoll auf ihn warteten. Seine Begeisterung über das, was er erlebt und gefühlt hatte – tagelang konnte er von nichts anderem reden –, brachte ihm den Namen »Jahalik«, Schwarzer Blitz, ein und bald rief ihn niemand mehr »Ja-laieng«, Schwarzer Held, den Namen, den seine Mutter ihm gegeben hatte. Wenig später schon besuchte er den Steilhang wieder, diesmal mit einem Seil, und suchte nach einem Weg, um hinunterzukommen. Allein oder mit seinen Freunden erprobte er die halsbrecherischsten Möglichkeiten, den abgeschiedenen Strand zu erreichen und die vermuteten Schätze zu bergen, die die Ebbe ihnen enthüllte, bis El Jati davon erfuhr und es ihm streng verbot – ohne zu ahnen, dass es Blitz schon mehrere Male gelungen war, hinabzusteigen. Außer einigen besonders schönen, großen Muscheln hatte er nichts mitgebracht, doch diese verwahrte er voller Stolz in seinem Zimmer.

      Es kostete Blitz all seine Kraft, gegen die Strömung anzukämpfen. Er vergaß seine Müdigkeit, seine Schmerzen. Es war nicht mehr das Meer, dem er sein Leben abrang, sondern El Jati, es war das Schiff, dem er nachschwamm, es war Rinland, das er suchte. Nur wenige Meter vom Ufer entfernt rang er mit Kräften, die größer waren als seine eigenen, und obwohl er gewusst hatte, worauf er sich einließ, überraschte ihn wie jedes Mal die Aussicht auf den Tod von neuem. Dieser Moment der Klarheit, in dem ihm aufging, dass er vielleicht doch zu weit gegangen war; der Augenblick, in dem aus dem Spiel tödlicher Ernst wurde, war ihm nicht unbekannt und doch war es jedes Mal anders, war es eine Überraschung, zugleich erschreckend und wunderbar. Er fühlte die Kraft in seinen Armen und Beinen, die salzige Luft in seinen Lungen, während er um sein Leben kämpfte, lebendiger als je zuvor. Wie um alles in der Welt kann El Jati nur glauben, er könnte mich beschützen?, dachte er wütend. Er hat mir das Leben gerettet? Es war lächerlich.

      Er schlug hart mit dem Knie gegen einen Stein und klammerte sich fest, um seine Kräfte zu sammeln, bevor er sich erneut der Strömung auslieferte. Diesmal musste er es schaffen, dem Sog zu entkommen. Er war schon zu weit abgedriftet; noch ein paar Meter weiter und er würde nicht die geringste Chance haben, ans Ufer zu gelangen.

      Während er sich ausruhte, während er atmete, tief und gierig, spürte er seine Wut verebben. Er klammerte sich an den Felsen und lachte leise.

      »Dies ist mein Leben!«, rief er laut. »Mein Leben und mein Tod. Jati, das ist meins! Meins!« Der Gedanke an das unerreichbare Schiff schmerzte noch immer. Etwas war in ihm, das wusste, dass es nie aufhören würde wehzutun. Selbst wenn irgendein Sturm die Überreste der Weißen Möwe und die Leichen seiner Freunde anspülte, würde er es noch bedauern, nicht mit an Bord gewesen zu sein, auf dieser Reise mit dem großartigsten Ziel, das es geben konnte. Es wäre wie ein neues Leben gewesen, mit dabei zu sein, die Fortsetzung ihres wunderbaren Sommers. Aber wenn El Jati glaubte, dass er jetzt wieder der gehorsame kleine Bruder sein würde, täuschte er sich. Gewaltig.

      Der Entschluss, auf jeden Fall etwas Neues zu beginnen, selbst wenn er noch gar nicht hätte sagen können, was er plante, gab ihm neuen Auftrieb. Er ließ den Felsen los und spürte, wie die Strömung an ihm zerrte. Dann begann er zu schwimmen und legte alles, was er hatte, in seine schnellen, kraftvollen Bewegungen.

      Es reichte nicht. Einen Moment lang war ihm wieder der Tod nah, das Bewusstsein, dass er tatsächlich hier und jetzt sterben konnte. Dann fühlte er kälteres Wasser vor sich. Das letzte Mal sammelte er seine ganze Kraft und warf sich aus dem Strom. Er war entkommen.

      Keuchend schleppte er sich ans Ufer und ließ sich aufs Gras fallen. Die Dämmerung senkte sich bereits herab und er wusste, dass er sofort nach Hause gehen musste, wenn er nicht noch mehr Ärger bekommen wollte. Einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, jetzt noch Liri zu besuchen, seine süße kleine Freundin, die ihm mit Sicherheit erlauben würde, in ihrem Bett zu schlafen. Doch dann fiel ihm ein, dass er sich bereits von ihr verabschiedet hatte, in dem Glauben, dass er heute mit der Weißen Möwe abreisen würde, und wie sie geweint und ihn beschimpft hatte. An noch mehr Streit hatte er an diesem kräftezehrenden Tag keinen Bedarf. Blieb nur zu hoffen, dass El Jati ihm aus dem Weg ging.

      Der Wind zerrte an seinen nassen Kleidern und ließ ihn frösteln. Er erhob sich, suchte nach seinen Schuhen und ging barfuß über den sandigen Weg zurück.

      Binajatja beugte sich über die Bücher. Der gelbliche Schein der Lampe fiel auf lange Reihen von Zahlen, denen sie eine nach der anderen hinzufügte. Sie kaute am Ende des Stiftes und runzelte die Stirn, aber als Mino klopfte und eintrat, lächelte sie.

      »Vielleicht sollte ich dich das tun lassen«, sagte sie. »Du bist alt genug.«

      »Du weißt doch, dass ich diese kleine Schrift nicht lesen kann«, meinte das Mädchen leise, aber sie kämpfte darum, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten.

      »Wir werden uns daran gewöhnen, dass er weg ist«, behauptete ihre Mutter. Ihre Stimme klang so überzeugend, dass sie ihr fast geglaubt hätte, aber dann fügte Binajatja hinzu: »Wir müssen es«, mit einer Bitterkeit, die ihren Schmerz verriet. Tränen hätte Mino noch besser verstehen können, aber die Apfelkönigin gehörte nicht zu den Frauen, die über ihrem Leid weinten. Sie biss die Zähne zusammen und machte weiter.

      Ach