Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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im Stich gelassen hat.«

      Lexan stand abrupt auf. »Ich werde diese Diskussion nicht weiterführen.« Zornig warf er den Deckel seiner Kiste zu.

      »Ach nein?«, fragte Mino. »Warum nicht? Weil du vielleicht irgendwann zugeben müsstest, dass sie recht hat? Dass unser geliebter Vater doch nicht so vollkommen war, wie du gerne glauben möchtest?«

      Sie starrten sich an. Mino war genauso überrascht über die Wut in Lexans Augen wie über ihre eigene Wut, die so unvermittelt aus ihr herausbrach. Lexan war der Sanfte, der Träumer und Denker, nicht derjenige, der im Haus herumschrie, so dass die Nachbarn es hören konnten. Und sie selber, obwohl sie ihre Gefühle lang nicht so gut beherrschen konnte, war niemals wütend auf Lexan gewesen, auf ihren wunderbaren älteren Bruder. Es zu spüren, dieses köstliche, eigenständige Gefühl gerechten Zorns, war zugleich erregend und niederschmetternd.

      Lexan schüttelte den Kopf und wandte sich ab, und das war vielleicht das Allerschlimmste. Dass sie so auseinandergingen, im Streit, obwohl sie doch zusammen hätten losziehen müssen. Lexan nahm den Strick des Rollbretts auf, auf dem seine Kiste stand, und zog sein Gepäck aus dem Zimmer, und Mino starrte ihm nach und spürte, wie ihr der Schmerz und die Wut die Kehle zuschnürten.

      Später ging sie zum Hafen. Jußait rollte gerade ein kleines Fass über die Rampe. Als sie Mino sah, lächelte sie und strich sich das Haar aus der Stirn. Es war so schwarz wie ihre Augen. Früher hatte Mino geglaubt, dass sie eines Tages Jußaits Brautjungfer sein würde, wenn ihre Freundin Lexan heiratete. Sie hatte immer daran geglaubt, dass die beiden eines Tages heiraten würden; Blitz war der Einzige, der nichts davon hören wollte. Nun gut, manchmal schienen nicht einmal Lexan und Jußait zu wissen, wie es um sie stand. Manchmal sah es wirklich so aus, als wären sie nur gute Freunde. Doch nun würde sie mit Lexan und Bajad übers Meer segeln.

      Jußaits Lächeln verblasste, als sie Minos grimmiges Gesicht sah.

      »Du solltest nicht so wütend auf uns sein, Mino.«

      »Ich frage mich immer wieder, wie Lexan es geschafft hat, dich dazu zu überreden«, sagte Mino. »Es ist nicht einmal dein Vater, den ihr sucht.«

      »Nein«, gab Jußait zu, »aber immerhin waren zwei meiner Onkel Seeleute auf Res Schiff.« Sie gab ihrem Fass einen Stoß und wuchtete es über die Kante. Mino rührte keinen Finger, um ihr zu helfen.

      An Bord der Weißen Möwe richtete Jußait sich auf und blickte auf Mino hinunter. »Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass es gar nicht nur um deinen Vater geht? Und auch nicht um unsere anderen Verwandten? Weder für mich noch für Bajad oder Blitz oder Lexan?«

      »Lexan geht es darum, Vater zu folgen.« Sie fügte hinzu: »So ein mörderischer Wahnsinn.«

      Jußait schüttelte den Kopf. »Nein, Mino. Wenn es nur darum gehen würde, einen verschwundenen Fischer zu suchen, glaubst du, ich würde mich darauf einlassen?«

      Sie wollte es nicht hören, nicht das, was Jußait jetzt sagte. »Rinland«, sagte sie. »Nur deswegen bin ich hier.«

      »Das glaubst du doch selbst nicht. Du fährst nur mit, weil du total in Lexan verschossen bist!« Mino drehte sich um und ging zurück.

      »Es ist auch deine Reise!«, rief Jußait ihr nach. »Und du weißt es!«

      Mino hielt ihr Gesicht in den Wind. Sie wusste, dass Lexan auf diesen Wind gewartet hatte, auf den nahenden Herbst, dessen Stürme ihn weit hinaus aufs Meer tragen sollten. Er wird untergehen. Er wird sterben und ich werde ihn nie wiedersehen, so wie Vater. Ich sollte dabei sein, ich sollte bei ihm sein, wenn es geschieht, wenn er einsieht, dass er einen Fehler gemacht hat. Vielleicht könnte ich ihn dazu überreden, umzukehren – falls wir den ersten Sturm überleben.

      Wir.

      Mino biss die Zähne zusammen. Es gab kein Wir. Sie würde nicht dabei sein auf der Weißen Möwe, wenn sie den Hafen verließ. Sie nicht und – was hatte Jußait gesagt? Sie und Bajad und Blitz und Lexan ...

      Blitz?

      Mino begann zu rennen. Das würde El Jati niemals zulassen! Sie konnte ihren Bruder vielleicht nicht aufhalten, aber El Jati würde niemals erlauben, dass sein Bruder sich auf diese gefährliche Reise begab.

      »He, wohin so schnell?« Sie war in Bajad hineingerannt, der mit einem großen Seesack in der Hand pfeifend den Pfad entlangkam. »Holst du noch schnell deine Sachen?« Einen Augenblick lang hielt er Mino fest, und in dieser kurzen Zeit schoss Mino durch den Kopf, wie es wohl wäre, wenn er sie einfach packen und mitnehmen würde.

      »Du weißt, dass ich nicht mitkommen kann.«

      »Du kannst nicht?« Bajad schüttelte den Kopf. »Das ist mir neu. Ich dachte bisher immer, du willst nicht.«

      Bajad war der älteste der Freunde. Er hatte schon auf vielen Schiffen als Matrose gearbeitet und würde Lexan eine unschätzbare Hilfe sein. Aber dass ein Seemann wie er sich überhaupt auf dieses Abenteuer einließ, ging über Minos Verstand.

      Sie schaute ihn an. In seinen braunen Augen lag all seine Zuneigung, die er nie vor ihr verborgen hatte. Sie war immer davon ausgegangen, dass sie sich darauf verlassen konnte, auf seine starken, ruhigen Gefühle, aber anscheinend war das ein Irrtum gewesen. Wie konnte er auf dieses Schiff gehen, wenn sie ihm etwas bedeutete?

      »Bleib hier, Bajad«, drängte sie ihn. »Bajad ...«

      Aber er blickte sie nur an, liebevoll und zugleich traurig. Ihre ganze Verzweiflung loderte in ihr hoch wie eine Stichflamme.

      »Und Blitz? Seit wann kommt Blitz auch mit?«

      Sein Zögern entging Mino nicht.

      »Das kann doch nicht wahr sein! Er tut das gegen El Jatis Willen? Er reißt einfach aus?«

      »Hör zu, Mino ...« Bajad versuchte, sie zurückzuhalten, aber Mino riss sich los und rannte weiter. Ihr Herz hämmerte. Blitz war ihr bester Freund und sie hatte immer Trost darin gefunden, dass er hier bleiben würde, mit ihr zusammen. Selbst wenn die anderen fortfuhren, würde Blitz ihr bleiben, und selbst wenn er immer nur den Menschen in ihr sah, mit dem man reden und Pläne schmieden konnte, auch wenn er nie sein Herz an sie verlor, würde sie immer getröstet sein, allein durch seine Gegenwart. Er durfte nicht einfach den Willen seiner Familie missachten und mitfahren! Lexan und Jußait und Bajad und auch noch Blitz verlieren, auf einen Schlag? Das war zu viel.

      Keuchend erreichte Mino das Dorf. Das kleine Haus der Brüder El Jati und Blitz lag etwas abseits, inmitten eines gepflegten Gartens voller Rosen und Blumen. Alika hatte ein Händchen für alles, was grünte und blühte. Mino fand sie draußen, einen Korb über dem Arm.

      »Wo ist El Jati? Wo ist Blitz?«

      Alika trug ihr langes, schwarzes Haar immer offen, sie liebte es, wenn der Wind darin spielte. Ihre dunklen Augen erinnerten Mino an Jußait, obwohl die beiden nicht verwandt waren. So mussten Frauen aussehen, wie diese beiden: schwarzhaarig, dunkeläugig. Das war die Art Mädchen, die Blitz bewunderte; wie oft hatte er davon gesprochen, dass er eines Tages eine wie sie finden würde, wie El Jatis wunderbare blumenpflegende Kriegerin aus Salien. Allerdings war Blitz auch davon ausgegangen, dass Jußait sich eines Tages in ihn verlieben würde. Irgendwann wird sie mir gehören, hatte er gesagt, das schönste Mädchen der Insel, und damit hatte er bestimmt nicht Mino gemeint. Blitz, den sie alle liebten, diesen lebhaften Jungen mit dem frechen Grinsen. Er war der festen Überzeugung, dass er, wenn es soweit war, wählen konnte, wen er wollte – natürlich Jußait –, und bis dahin waren alle Mädchen sein.

      »Alika! Wo sind sie? Wo ist Blitz?«

      »El Jati ist in der Plantage. Blitz ist drinnen im Haus, glaube ich. Was ist denn los?«

      »Hol El Jati her! Jetzt! Schnell! Ich werde versuchen, Blitz solange aufzuhalten! Beeil dich!«

      Mino ließ die verwirrte Alika am Zaun stehen und stürmte durch die angelehnte Haustür nach drinnen.

      Blitz’ Gepäck stand bereit. Er selbst saß am Tisch und trank; als er seine Freundin sah, stellte er das Glas ab