Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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machte die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen. Sie atmete tief durch. Bis jetzt hatte sie gehofft, dass Jußait und Bajad sich irrten und Blitz nicht wirklich vorhatte, mitzukommen. Er sprach oft und viel davon, was er alles tun würde, und löste seine Versprechen selten ein. Es hätte zu ihm gepasst, wenn er diese Schiffsreise geplant hätte, im festen Glauben, dass sie das wichtigste Ereignis seines Lebens war, und im letzten Moment eine noch bessere Idee bekommen hätte.

      »Ich fasse es nicht«, sagte Mino langsam.

      »Das kann ich verstehen«, meinte Blitz heiter. »Mir kommt es auch noch ganz unwirklich vor. Bis jetzt war ich mir nicht sicher, ob ich es wirklich tun werde. Aber heute morgen bin ich aufgewacht und es war alles so klar ... Wir werden lossegeln und Rinland finden. Worüber machen sich eigentlich alle so große Sorgen? Es ist ganz einfach, nicht?«

      »Du kannst nicht mitfahren«, sagte Mino. In ihren Ohren pochte das Blut.

      Blitz hörte ihr nicht zu. »Ich habe gehofft, dass wir uns noch verabschieden können. Ich wusste ja nicht, ob du überhaupt zum Hafen kommen wirst. Lexan meinte, dass es dir vielleicht zu schwer fallen würde. Aber ...«

      Mino unterbrach ihn. »Du verstehst nicht, Blitz. Du wirst nicht mitfahren. Du kannst nicht. Du darfst nicht. Dein Bruder hat es dir verboten, nicht? Du wirst nicht auf diesem Schiff sein.«

      »Wenn ich nur das tun würde, was El Jati mir erlaubt ...« Er stockte, kniff die Augen zusammen und musterte Minos Gesicht. »Was ist?«

      Mino sagte nichts, Ärger und Verzweiflung schnürten ihr die Kehle zu.

      »Komm, trink auch ein Glas. Auf meinen Abschied. Darauf, dass wir Rinland finden, die wahre Glückliche Insel. Auf unsere Freundschaft!«

      Er reichte Mino das Glas. Goldgelber Wein schimmerte darin. Mino schnupperte daran; der Duft der Obstplantagen stieg ihr entgegen – Pfirsiche, reif und köstlich, die Süße und Kraft der Sonne.

      »Du darfst doch keinen Wein trinken«, sagte sie.

      »Bald wird El Jati mir nichts mehr verbieten. Komm, lass uns trinken.«

      Mino wollte sagen: Und auch Lexan erlaubt nicht, dass jemand auf sein Schiff kommt, der getrunken hat. Aber sie sagte es nicht. Sie nippte an ihrem Glas, sie dachte: Das ist der Geschmack der Glücklichen Inseln, das ist unsere Heimat. Wir werden sie nicht eintauschen gegen den kalten, nassen Tod auf dem Meer, gegen Sturm und Einsamkeit.

      »Wir wollten zusammen in die Wälder, weißt du noch? Ins Kaiserreich. All die Abenteuer, die wir uns ausgemalt haben ...«

      Je länger sie Blitz davon abhalten konnte, durch diese Tür zu gehen, umso besser. Sie hoffte nur, dass Alika El Jati auch wirklich herholte.

      »Das alles ist nichts im Vergleich zu diesem Abenteuer«, sagte Blitz knapp. »Es gibt nun mal kein Ziel, das mit Rinland vergleichbar wäre.«

      Er hatte es jetzt auf einmal eilig. Er klopfte Mino auf die Schulter, bückte sich dann zu seinen beiden prall gefüllten Rucksäcken und sagte: »Mach die Tür auf. Lexan hat gesagt, er wird nicht warten.«

      Mino rührte sich nicht von der Stelle. »El Jati und Alika brauchen dich hier«, sagte sie.

      »Geh zur Seite.« Blitz klang erstaunt, aber jetzt schien es ihm langsam zu dämmern, was Mino vorhatte. »Ich sagte, geh zur Seite.«

      »Nein.«

      Sie maßen sich mit Blicken. Mino wusste, dass sie nicht wirklich eine Chance gegen ihn hatte. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Chance. Blitz konnte kämpfen wie ein Wilder. Niemand auf der Insel legte sich gerne mit Blitz an, nicht einmal die Brüder seiner wechselnden Freundinnen, denn wenn er kämpfte, tat er es wie ein Besessener. Alika hatte ihm beigebracht, sich mit einem Messer zu verteidigen, und hatte es später bedauert – wenn er ein Messer in der Hand hatte, war es für alle besser, sich von ihm fernzuhalten, selbst wenn sie doppelt so groß gewesen wären wie er. Blitz war recht klein für seine siebzehn Jahre, aber kräftig, und obwohl der Sommer auf dem Schiff auch ihre Muskeln gestählt hatte, kam Mino bei weitem nicht an ihn heran. Alika hatte ihr ein paar Kniffe im Ringen beigebracht, damit sie sich verteidigen konnte, wenn sie jemals angegriffen werden sollte, aber körperliche Auseinandersetzungen lagen ihr nicht. Mino verabscheute es, hart angefasst zu werden; schon als Kind war sie jedes Mal in Tränen ausgebrochen, wenn andere Kinder mit ihr raufen wollten. Aber sie musste Blitz ja auch nicht besiegen. Sie musste ihn nur so lange aufhalten, bis El Jati kam.

      »Mino, jetzt lass mich vorbei.«

      Sie wappnete sich innerlich gegen den Angriff. Es wird sein, als müsste ich einen wildgewordenen Hund abwehren, dachte sie. Es ist zu seinem eigenen Besten. Nur deshalb tue ich es, nur aus diesem Grund.

      »Wir wollten nach Deret-Aif«, sagte sie leise. »In die Wälder. Wir wollten nach Kirifas und den Kaiser sehen. Wir wollten ... willst du das alles denn nicht mehr?«

      Blitz hatte beschlossen, keine Zeit mehr zu verlieren. Er stellte sein Gepäck ab, aber er dachte gar nicht daran, sie anzugreifen. Fassungslos blickte er in das Gesicht seiner Freundin.

      »Was soll das, Mino? Es ist meine Entscheidung, nicht deine.«

      Als sie nicht antwortete, trat Blitz näher vor sie hin, aber Mino stieß ihn heftig mit beiden Händen zurück. Sie wollte den Kampf, jetzt sofort, sie wollte nichts mehr als das. Als er aufstehen wollte, warf sie sich über ihn, um ihn daran zu hindern.

      »Du dumme Kuh!«, schrie Blitz, während sie am Boden rangen. »Du wirst die Abfahrt verpassen! Du wirst nicht dabei sein, wenn Lexan fährt!«

      »Und du auch nicht«, ächzte Mino.

      Bis zu diesem Augenblick hatte sie geglaubt, dass es ihr nichts ausmachte, das Schiff nicht abfahren zu sehen. Sie und Lexan waren im Streit auseinandergegangen und sie hatte keinen Bedarf, sich noch einmal zu verabschieden. Aber während sie Blitz auf den Fußboden zwang und seine Hände abwehrte, wollte sie gleichzeitig dort sein, dort im Hafen, und die Weiße Möwe festhalten. Sie wollte sich den Anker um den Leib binden und ihren Bruder dazu zwingen, bei ihr zu bleiben. »Du bleibst hier«, schrie sie, während sie zuschlug, »du bleibst hier, hast du verstanden, du bleibst!«

      Dann spürte sie Blitz’ Faust in ihrem Gesicht und der Schmerz benebelte sie. Sie fiel zurück und schlug mit dem Hinterkopf gegen ein Tischbein. Benommen sah sie zu, wie Blitz sich aufrappelte und zu seinen Taschen wankte. Er stieß die Tür mit dem Fuß auf.

      »Du darfst nicht gehen!«

      Hatte sie das gesagt? Mino hatte nicht gemerkt, wie die Worte über ihre Lippen gekommen waren.

      Es war El Jati. Er stand in der Tür, hinter sich seine Frau Alika, die mit großen erschrockenen Augen ins Zimmer starrte.

      »Lasst mich endlich vorbei!«, schrie Blitz.

      Nun war es nicht mehr Minos Kampf. El Jati hatte sich noch nie davor gescheut, seinen kleinen Bruder mit Gewalt zu erziehen; gegen ihn hatte Blitz keine Chance. Er wusste es und versuchte es dennoch, während Alika sich heraushielt und nur zuschaute. Sie kam nicht einmal zu Mino, um ihr zu helfen. Sie schaute nur zu, wie die Brüder kämpften – nein, wie El Jati Blitz verprügelte und wie dieser sich verzweifelt wehrte. Das war kein Kampf mehr, das war die Maßregelung eines ungezogenen Kindes. Erst als es schließlich vorbei war und El Jati seinen Bruder in den Keller gesperrt hatte, wo sie ihn toben und schreien hörten, kam Alika zu ihr.

      »Du blutest«, sagte sie. »Brauchst du etwas?« Ihre Stimme klang kühl, und in dem Bewusstsein, dass sie Alikas Verachtung verdiente, stand Mino auf, hielt sich den Ärmel an die blutende Lippe und ging hinaus.

      Das Schiff hatte schon abgelegt. Sie hatte erwartet, dass es nicht mehr zu sehen sein würde, aber anscheinend hatte Lexan doch so lange gewartet, wie er konnte. Aber Blitz war nicht gekommen. Und sie, Lexans einzige Schwester, Jußaits und Bajads Freundin, war nicht da gewesen, um zu winken, um ihnen alles Gute zu wünschen. Vielleicht hätte Bajad ihr einen Abschiedskuss gegeben und nur wegen Blitz war es nicht dazu gekommen. Alles wegen Blitz...

      Ein