Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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ist passiert?«

      »Blitz ist fort«, sagte El Jati.

      »Wie, er ist fort? Er kommt doch zurück.« Es war nicht unüblich, dass Blitz seine Nächte immer wieder auswärts verbrachte. Die Insel war klein, aber das hieß nicht, dass es hier nicht unzählige Möglichkeiten gab, sich zu verstecken, wenn man nicht gefunden werden wollte. Nicht einmal Mino wusste, mit welchem Mädchen Blitz gerade befreundet war.

      »Er hat sein Gepäck mitgenommen«, sagte Alika, die neben ihren Mann trat.

      »Und einen Teil unserer Ersparnisse«, fügte El Jati leise hinzu.

      »Aber – wir werden ihn doch suchen?«, fragte Mino. Sie wollte nicht glauben, was sie hörte. Und wenn sie die ganze Insel hundert Mal absuchten, konnte es immer noch einen Ort geben, wo Blitz sein konnte.

      »Ja«, sagte Alika, »ja, natürlich«, aber aus ihrer Stimme konnte Mino heraushören, dass sie nicht damit rechneten, ihn zu finden.

      2. Blindlings

      I ND E RK I S T Ewar es eng. Es roch so intensiv nach Äpfeln, dass er glaubte, entweder betrunken davon zu werden oder ersticken zu müssen, aber keinen Moment dachte er daran, um Hilfe zu rufen. Die Männer gingen möglichst behutsam mit den Kisten um, und Blitz zweifelte nicht daran, dass er lebendig das andere Ufer erreichen würde. Durchgeschüttelt und verkrampft, aber frei und lebendig. Frei.

      Als Blitz sich in eine der leeren Obstkisten hineingezwängt hatte, hatte er es geschickt angestellt. Mit einem Sacktuch abgedeckt, war er nicht zu sehen, wenn sie ihn verluden – die ausgewählten Früchte, die für Aifa bestimmt waren, waren alle abgedeckt, um sie vor Wespen und Staub zu schützen – und obwohl er mehr schlecht als recht hineinpasste, würde es den Männern nicht auffallen, dass er hier drin war. Die Kisten waren alle so schwer, dass sie zu zweit anpacken mussten, und da er klein war, hoffte er, dass sein Gewicht nicht allzu sehr auffiel.

      Er hörte ihre Stimmen, er hörte, wie sie scherzten und fluchten. Der Morgen war jung und der frische Wind ließ sogar ihn dort unter dem Tuch frösteln. Es versprach ein schöner Tag zu werden, mild und sonnig, ein Tag, an dem man in einem Boot über das Meer fahren konnte, in die endlose Weite. Das Boot, in das seine Kiste geladen wurde, war jedoch nur ein Lastkahn und hatte keine weite Reise vor sich, nur nach drüben zum Festland, wo die Fracht auf Pferdefuhrwerke verteilt werden würde. Man hatte auch schon versucht, die Kähne den Fluss heraufzuziehen, bis hoch in die Kaiserstadt Kirifas, aber der Fluss war stellenweise wild und unzuverlässig, und das Risiko zu kentern war größer, als im Wald in die Hände von Räubern zu fallen.

      Im Bauch des Kahns war es so stickig, dass er durch die Ritzen der Bretter nach Luft rang. Die wenigen Stunden Fahrt bis zum Hafen in Drian kamen ihm vor wie eine endlose Tortur. Er konnte sich nicht bewegen, er konnte kaum atmen – dabei hatte er sich darauf verlassen, dass das Obst nicht luftdicht verstaut wurde – und zum ersten Mal in seinem Leben war er seekrank. Während er sich dem Tode nahe fühlte, bereute er schon, was er getan hatte, und er hätte alles darum gegeben, wieder auf der Insel zu sein, wieder Seeluft zu atmen und die Stimmen seiner Freunde zu hören. Bereits jetzt vermisste er Mino. Er wollte an sie denken als an ein launisches Mädchen, das ihn verraten hatte, er wollte sie sich kühl, unnahbar und rechthaberisch vorstellen, den verwöhnten Sprössling der Apfelkönigin, als eine Mino, die sich für etwas Besseres hielt, nur weil sie die Erbin der Frau war, der die Gärten gehörten. Aber dieses Bild hatte keinen Bestand, nicht hier in der Enge, zwischen dem Knarren und Knarzen der Kisten und des Kahns, in der apfelduftgeschwängerten Luft, die weder zum Leben noch zum Sterben reichte. All das war Mino und war es doch nicht. Sie konnte nicht Feindin und Freundin zugleich sein, die doch immer nur seine Freundin gewesen war, trotz aller Unterschiede.

      Wie wird sie mich auslachen, wenn sie mich hier finden, halb tot und verwirrt, dachte Blitz, wie werden wir beide darüber lachen... Und er würde das Geld zurücklegen, bevor El Jati und Alika gemerkt hatten, dass es fehlte. Aber wahrscheinlich hatten sie es schon gemerkt und wussten, dass er ein Dieb war. Er wollte nicht darüber nachdenken, was Alika wohl dazu gesagt hatte. El Jati geschah es recht, aber an Alika wollte Blitz lieber nicht denken.

      Er konnte es hören, als das Boot anlegte. Die lauten Stimmen der Männer, das Wiehern von Pferden, die bis zum Ende der Verladung von den Fuhrwerken losgeschirrt worden waren, sogar die Schreie der Möwen erreichten ihn in der Dunkelheit und Enge seiner Kiste. Sein Lebensmut regte sich wieder. Jetzt war bald der Zeitpunkt da, auf den er gewartet hatte. Er musste aus seiner Kiste herausspringen und fliehen, bevor er auf einem Fuhrwerk landete, womöglich eingekeilt zwischen anderen schweren Kisten, aus denen er nie mit eigener Kraft herauskommen würde. Einige Tagesreisen bis zu irgendeinem Markt mitzufahren, war zwar verlockend, aber nur, wenn er die Fahrt nicht in diesem Sarg verbringen musste.

      Die Arbeiter waren nun schon bis zu dem Stapel, in dem er sich befand, gekommen. Atemlos hielt er still, als sie die Kiste über ihm herabhoben, und als er dann selbst von kräftigen Händen in die Höhe gehoben und über den Steg nach draußen geschleppt wurde, sammelte er all seine Kraft. Vorsichtig schob er die Decke zurück, um zu sehen, wo er sich befand.

      Das Licht blendete ihn und er hob den Kopf etwas höher. Es war zu früh, aber vielleicht wäre jeder Zeitpunkt ungünstig gewesen; hier am Hafen, wo so viele Menschen arbeiteten, war es nahezu unmöglich, nicht von irgendjemandem gesehen zu werden, wenn man aus einer Kiste kroch, in der sich Obst hätte befinden müssen.

      »He, was...«

      Blitz beschloss, auf der Stelle zu fliehen.

      Womit er nicht gerechnet hatte, war die Erschwernis einer schnellen Flucht durch einen Körper, der stundenlang in verkrampfter Haltung in einer Kiste verbracht hatte. Seine Beine waren eingeschlafen und ihm war so schwindlig, dass er mehr aus der Kiste fiel, als dass er sprang. Sein Plan hatte so ausgesehen: Er würde aufspringen und rennen, bevor sie ihren Ärger über die leere Kiste an ihm auslassen konnten. Aber in der Realität stürzte er kopfüber nach unten, wobei er gleichzeitig versuchte, seinen Schultersack zu fassen zu kriegen, ohne den er nicht weit kommen würde, denn hier hatte er nicht nur Kleidung, eine Decke und ein wenig Proviant verstaut, sondern auch das gestohlene Geld. Als er sich dann aufrappelte und laufen wollte, wusste er nicht mehr, wo oben und unten war, taumelte gegen die Hafenarbeiter, die die nächste Kiste heranschleppten, und fand sich plötzlich im harten Griff eines sehr kräftigen Mannes wieder.

      »Wo kommst du denn her, verdammt noch mal.«

      Er konnte nicht sprechen, geschweige denn, dass er in der Lage war, sich zu wehren. Ihm war nur übel. Er beugte sich nach vorne und übergab sich auf die Schuhe des Arbeiters.

      »Würde«, sagte Binajatja. »Das, worauf es ankommt, ist die Würde, die ein Mensch ausstrahlt und mit der man Schwierigkeiten erträgt.«

      Mino nickte. Ihre Mutter hatte natürlich recht. Alles an ihr strahlte Würde aus, eine majestätische, hoheitsvolle Haltung. Ihrem Gesicht sah man nicht an, dass sie eben erst ihren ältesten Sohn an ein ungewisses Abenteuer verloren hatte. Sie ging stets aufrecht, mit festen, zielbewussten Schritten, niemals vernachlässigte sie ihre Kleidung, niemals klang ihre Stimme traurig oder gar unsicher.

      »Sieh dich doch an«, sagte sie streng. »Wie siehst du aus? Was ist das da auf deinem Kopf – Heu? Du bist schmutzig, Mino, unerträglich schmutzig. Wenn wir eine Tischlerei hätten und du wärst voller Holzspäne, wäre das in Ordnung. Wären wir Fischer und du würdest nach Fisch riechen, würde dir keiner Vorwürfe machen. Aber wir handeln mit Ware, die andere Leute essen wollen. Selbst wenn du keinen einzigen Apfel berührst, wird man dich ansehen und die Nase rümpfen und sich seine Gedanken machen. Ich dulde nicht, dass du den Leuten den Appetit verdirbst.«

      »Ja, Mutter.«

      »Außerdem ist deine Kleidung zerrissen. Ist dir eigentlich egal, was die Leute über dich denken könnten? Du bist bald eine Frau. Zieht sich so eine anständige Frau an? Ist dir eigentlich klar, was man alles sieht?«

      »Ich habe ihn gesucht«, sagte Mino leise. »Auf der ganzen Insel, überall.«

      »Natürlich.« Ihre Stimme klang