Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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an diesen Gedanken zu gewöhnen. Du bist es jetzt. Jetzt und immer, jeden Tag. Immer, wenn dich irgendjemand sieht, sieht er meine Nachfolgerin. Er sieht unsere Gärten in dir. Über die Hälfte der Menschen auf dieser Insel lebt von dem, was wir hier anbauen. Du kannst es dir nicht mehr erlauben, dich wie ein Kind aufzuführen.«

      »Ja, Mutter.«

      »Solange Lexan da war, hat es mich nicht gestört, dass du dich mit diesem Blitz getroffen hast. Obwohl sein Ruf – nun ja. Aber jetzt, wo du meine Erbin bist, ist das etwas anderes. Du bist jetzt eine junge Frau. Es gibt keine Kinderfreundschaften, Mino. Es gibt nur noch junge Männer, die um dich werben und es ernst meinen, oder solche, die es nicht ernst meinen. Blitz gehört wohl ganz klar zu Letzteren.«

      »Mutter, ich...«

      »Dieser Junge taugt nichts. Es wäre für uns alle besser gewesen, wenn er auf dieses Schiff gegangen und Arima verlassen hätte.«

      Mino öffnete den Mund, aber sie konnte nichts sagen. Sie fühlte sich so elend, dass sie nichts von all dem sagen konnte, was ihr auf der Zunge lag.

      »Also, was ist das Wichtigste? Hast du es dir gemerkt?«

      »Würde«, antwortete sie leise. Es war ein Wort, das ihrem Herzen fremd war. Sie erinnerte sich an Blitz’ Gesicht, als er erkannt hatte, dass sie ihn nicht aufs Schiff lassen wollte, und fragte sich, wo er jetzt wohl war und was er tat. Sie dachte an Lexan, während er packte, an ihren Streit. Irgendwo hinter dem Horizont glitt die Weiße Möwe über die Wellen.

      Wofür war sie hiergeblieben – um Würde auszustrahlen?

      Es war ein Fehler, dachte sie, und der Gedanke kam über sie wie ein Schmerz, heiß und kalt zugleich. Ich müsste dort sein, bei ihnen. Mit Blitz zusammen. Wir müssten beide auf dem Schiff sein. Oh Rin, was habe ich nur getan...

      »Ich weiß, was Würde ist«, sagte sie leise. »Blitz hat mich für würdig befunden, seine Freundin zu sein. Lexan hielt mich für würdig, ihn auf seiner Reise nach Rinland zu begleiten. Ich habe sie beide enttäuscht.«

      »Was?«, fragte Binajatja zerstreut. Sie hörte ihr schon nicht mehr zu, während sie ihre Stiefel zuschnürte, um hinaus auf die Plantagen zu gehen. »Wir müssen überprüfen, ob die Rote Glocke schon pflückreif ist«, sagte sie. »Du solltest mitkommen. Eventuell lassen wir sie noch drei, vier Tage am Baum.«

      »Ich komme nach«, versprach sie.

      Aber danach stand sie lange am Fenster und starrte hinaus. Das Meer rief. Sie hätte nicht sagen können, ob sie gehofft hatte, dass es jetzt, wo ihr Bruder fort war, aufhören würde zu rufen. Aber es sang immer noch dasselbe wortlose Lied, in der Brandung hörte sie den Ruf, dem sie nicht entkommen konnte, niemals. Sie nahm die geschnitzte Möwe in die Hand und spürte die hölzernen Federn unter ihren Fingern.

      Als sie mit ihm fertig waren, ließen sie ihn auf der Erde liegen. Er fühlte den Staub unter seiner Wange. Nun würde auch sein rechtes Auge zuschwellen; das andere blaue Auge hatte El Jati ihm gestern verpasst. Vorsichtig befühlte er seine Zähne mit der Zunge. Sein Mund war voller Blut, aber die Zähne waren noch alle da. Einer seiner Vorderzähne schien etwas gelockert zu sein. Inständig hoffte er, dass er wieder anwachsen würde. Ob die Nase gebrochen war, konnte er jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen, aber seine Rippen fühlten sich an, als wären sie es. Er spürte den stechenden Schmerz mit jedem Atemzug.

      Die Stimmen der Männer drangen von weitem an sein Ohr. Sie hatten ihn verprügelt und ihm sein Geld abgenommen, als Entschädigung für die leere Kiste, die sie umsonst transportiert hatten, und ihn dann am Rand liegenlassen, wo er sie nicht beim Entladen und Beladen störte. Er glaubte nicht, dass irgendjemand sich die Mühe machen würde, ihn mit aufs Schiff zu nehmen und nach Arima zurückzubringen. Er hatte jetzt kein Geld mehr, um die Rückreise zu bezahlen, und zum blinden Passagier eignete er sich in seinem jetzigen Zustand auch nicht. Das Einzige, was ihm zu tun blieb, war, jemanden zu bitten, seinen Bruder auf Arima zu benachrichtigen. El Jati würde sofort kommen und ihn holen, daran gab es keinen Zweifel. Er war sich sicher, dass El Jati sofort alles stehen und liegen lassen würde, um herzukommen und ihn nach Hause zu bringen, und diese Sicherheit beschämte ihn. So wie er aussah, würde sein Bruder sogar auf Prügel verzichten. Vielleicht würde er den Kopf schütteln, und Alika würde ihm zuflüstern, sich mit Vorwürfen zurückzuhalten. Die ersten Tage würden still sein, während er im Bett lag und sich erholte und jeder sich bemühte, alles zu vermeiden, was in einen Streit ausarten könnte. Sie würden miteinander umgehen, als könnte ein lautes Wort mehr wehtun als eine blutende Nase. Wahrscheinlich würden sie ihn nicht einmal nach dem Geld fragen. Und nach einiger Zeit würde alles so sein wie vorher.

      Mühsam rappelte Blitz sich auf. Der Platz leerte sich. Die ersten Fuhrwerke waren schon abgefahren, die letzten waren mit dem Beladen fertig; die Männer holten bereits die Pferde. Niemand achtete auf ihn, während er seine verstreuten Habseligkeiten einsammelte und sie in den zerrissenen Schultersack stopfte. Sein Kopf schmerzte so, dass er es kaum fertigbrachte, sich zu bücken. Er schleifte den Beutel hinter sich her, fort vom Hafengelände, ohne zu wissen, wohin.

      »He! He, du!«

      Einer der Fahrer setzte den Eimer ab, aus dem sein Pferd gerade getrunken hatte. »Auch einen Schluck?«

      Er stolperte auf das Wasser zu, ohne seine Füße beherrschen zu können, beugte sich darüber und trank. Bis jetzt hatte er nicht gewusst, wie durstig er war. Vorsichtig benetzte er sein Gesicht mit dem kühlen Wasser.

      »Ich könnte noch jemanden gebrauchen, der mitfährt«, sagte der Mann. »Ich muss nach Laring, durch die Wälder. Bist du verletzt? Wenn du krank bist, kann ich dich natürlich nicht brauchen.«

      »Ich bin nicht krank«, versicherte Blitz. Das Gesicht würde von selbst heilen. Mit blauen Flecken kannte er sich aus. Wenn er sich wenig bewegte, würde auch die geprellte Rippe wenig Probleme machen. Der Schmerz musste ausgehalten werden, und auch das ging vorbei. Es war nicht seine erste Prügelei, aber er wünschte sich, die anderen hätten auch einstecken müssen. Er hatte ihnen nicht zeigen können, was er konnte, und das ärgerte ihn mittlerweile am meisten.

      »Es war unfair«, sagte er, während er auf den Kutschbock stieg. »Ich bin eigentlich ganz gut, was das Austeilen angeht.«

      »Na, hoffentlich«, meinte der Mann. »Wir müssen durch Räubergebiet. Eigentlich fährt Wilm mit mir, aber er ist ausgefallen. Es ist Wahnsinn, allein zu fahren, aber ich dachte schon, mir bleibt nichts anderes übrig. Kennst du dich mit Pferden aus?«

      Blitz nickte. Er hatte absolut keine Ahnung von Tieren, aber Nicken war nicht Lügen.

      »Nun denn, dann wollen wir mal.« Er schwang die Peitsche und die Pferde setzten sich in Bewegung. »Ich bin Barn.«

      Blitz lehnte sich vorsichtig an; jede Erschütterung verursachte ihm solche Schmerzen, dass ihm wieder übel wurde. »Ich bin Jahalik.«

      »Heißt das nicht Schwarzer Blitz? Das ist doch ein Pferdename! Wenn das kein gutes Zeichen ist!« Schon jetzt war zu merken, dass Barn ein lustiger Mensch war, der gerne und ausgiebig, laut und dröhnend lachte. Blitz sagte nichts. Er schloss die geschwollenen Augen und überließ sich dem Schaukeln der Kutsche; fast konnte er glauben, dass dies die Weiße Möwe war, die ihn nach Rinland brachte.

      Sie liefen am Strand entlang. Der Sand war weiß und fein, und es war eine Wohltat, ihn unter der Haut zu spüren. Scharfe Muschelschalen, kleine Krebse und angeschwemmte Quallen machten aus ihrem Wettlauf ein Hindernisrennen. Mino drehte sich um und sah, dass Blitz über das Gras lief, das fast bis zu den Wellen reichte, ein grünlicher Teppich, den jemand über die Dünen geworfen hatte. So hatten wir das nicht abgemacht, wollte sie rufen. In ihre eigenen Füße bohrten sich die Splitter einer zerbrochenen Muschel.

      So nicht, sagte sie, wir wollten beide denselben Weg nehmen, durch das Wasser, wir beide... Blitz lachte.

      Das Gras ist grüner, sagte er rätselhaft.

      Mino fuhr hoch und sah wieder, wo sie sich befand. Nicht in ihrem Zimmer, sondern in der Baumhütte, wie jede der vergangenen Nächte. Falls ihre Mutter davon wusste, schwieg sie jedenfalls