Die weiße Möwe. Lena Klassen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Klassen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567454
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Mino ihre Augen von dem seltsamen Schauspiel vor sich losriss und zum Fenster hin blickte, konnte sie die weiße Gischt sehen, wo sich die Wellen an den vorgelagerten Klippen brachen. Der Hafen war nur wenige hundert Meter entfernt, und obwohl sie es von hier aus nicht erkennen konnte, war das Schiff ständig gegenwärtig, dieses wunderbare kleine Schiff mit den weißen Segeln. Ein Boot. Eigentlich ist es nur ein Boot, dachte Mino, es verdient den Namen Schiff nicht. Es verdient den Namen nicht, den Lexan mit schwungvollen Buchstaben an die Bordwand geschrieben hat: Weiße Möwe. Denn fliegen kann es nicht, dachte sie. Dieses mickrige Boot kommt niemals über den großen Ozean. Mutter hat recht. Der hohen See kann diese Nussschale nicht standhalten.

      Und trotzdem konnte sie nicht anders, als es zu lieben, immer noch und jetzt vielleicht noch mehr denn je, dieses kleine Segelschiff, mit dem sie im Sommer die Inseln umrundet hatten.

      Es war einer der heißesten Sommer der letzten Jahre gewesen, und sie hatten eine Flaute nach der anderen hinnehmen müssen, ohne sich davon die Stimmung verderben zu lassen. Sie waren ins Wasser gesprungen und hatten getaucht und nach Muscheln gesucht, und abends hatten sie am Strand gesessen und am Feuer Fisch gebraten. Jußait und Bajad und Blitz hatten am Ufer geschlafen, im warmen Sand, aber sie wollte das Schiff nachts nicht allein lassen. Sie konnte es nicht verlassen, es war, als würde es ihr in den Knochen stecken. Lexan war bei ihr geblieben. Vielleicht, hatte sie damals gedacht, fürchtet er, dass Blitz oder Bajad mich nachts besuchen. Aber sie wusste, dass keiner von den beiden das jemals tun würde, Blitz nicht, weil er in ihr nur die gute Freundin sah, Bajad nicht, weil er stets Abstand wahrte. Aber es war ihr recht, mit ihrem Bruder zusammen zu sein. An diesen Abenden gehörte er nur ihr und sie konnten bis zum Einschlafen reden. Sie ließen sich von den sanften Wellen schaukeln, wenn sie an Deck schliefen und den Sternen neue Namen gaben und neue Sternbilder erfanden. Sie hatten sich unterhalten, bis der Mond aufging, groß und rund, und seinen silbernen Schein über die Weiße Möwe warf, und wenn sie die Augen schlossen, konnten sie das Licht auf ihren Lidern fühlen, nicht heiß wie die aufdringlichen Sonnenstrahlen, sondern sanft und verlockend.

      »Als wäre es das Auge Rins«, sagte Lexan leise, als Mino schon fast eingeschlafen war, »das auf uns herabblickt.«

      »Und die Sonne?«, fragte sie träge zurück. Lexan war immer derjenige, der die passenden Worte fand. Stundenlang konnte er dasitzen und nach Worten suchen, bis ihre Mutter ihn aufjagte und an die Arbeit schickte.

      »Die Sonne«, meinte Lexan verträumt, »ist wie Rins anderes Auge.«

      »Ja«, stimmte Mino zu, schläfrig und zufrieden. Sie war mit allem zufrieden, was Lexan sagte, selbst wenn es sich zuerst verrückt anhörte. Lexans Verrücktheiten erwiesen sich meist als gut durchdacht.

      »Ich werde ihm folgen«, sagte Lexan.

      »Wem?« Sie war schon auf dem halben Weg in den Schlaf. Ihr war, als wäre die Hälfte ihres Körpers bereits in die Matte eingesunken, und ihr Kopf verschwand schon halb im Kissen. Nur noch ein paar Augenblicke, und nicht einmal mehr ihre Nasenspitze würde zu sehen sein. Sie atmete tief ein und sank noch ein Stückchen tiefer in den ersten ihrer lebhaften Träume.

      »Vater. Ich werde ihm nachsegeln, Mino. Ich hätte es schon damals tun sollen, als er sich von uns verabschiedete. Ich wusste, dass ich zu ihm gehöre, auf sein Schiff, selbst wenn ich nur Schiffsjunge geworden wäre. Es war falsch, dass ich mich von Mutter zurückhalten ließ.« Lexan hielt sein Gesicht ins Mondlicht. »Ich kann bald an nichts anderes mehr denken. Wenn der Sommer vorbei ist, werde ich fahren.«

      In diesem Moment schlug der Schlaf über ihr zusammen und sie konnte nichts mehr fragen, sich nicht empören oder versuchen, ihrem Bruder die Sache auszureden. Das Letzte, was ihr über die Lippen glitt, bevor ihre Zunge ihr zu schwer wurde, waren die Worte: »Ich auch.«

      Erst gegen Mittag des nächsten Tages hatte Mino sich wieder an ihr Gespräch vor dem Einschlafen erinnert. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht einen Teil davon geträumt hatte, aber es war Lexan, der als Erster wieder davon anfing.

      »Du kommst also mit?«

      Es war doch kein Traum gewesen. Stattdessen wuchs sich die Sache zu einem Albtraum aus. Bevor sie auch nur ein Wort gesagt hatte, wusste Mino, dass es schwierig sein würde, Lexan diesen Wahnsinn auszureden.

      »Mit der Weißen Möwe? Du spinnst. Wir sind Obstbauern. Wir sind nicht einmal Fischer und erst recht keine Seefahrer.«

      In Lexans Augen glühte sein Entschluss. Er würde es tun. Es gab nichts, das so sicher war wie das; es gab nichts, was ihn zurückhalten konnte. Fast nichts.

      »Du wirst Mutter das Herz brechen«, sagte Mino und vielleicht war dies der einzige Satz, mit dem sie Lexan wirklich wehtun konnte. Sie bereute es schon, sobald sie es ausgesprochen hatte, aber nun konnte sie die Worte nicht mehr zurücknehmen.

      Lexan schwieg eine ganze Weile und Mino wartete bang auf seine Antwort. Dann soll sie doch mitkommen, würde er sagen, dann soll sie doch mit aufs Boot steigen, verdammt noch mal, wenn ihr so viel an mir liegt.

      Aber Lexan sagte etwas anderes. »Es tut mir leid«, sagte er nur. Und da wusste Mino, wenn sie es nicht schon längst gewusst hätte, dass sein Entschluss endgültig war.

      Die große Holzkiste füllte sich allmählich mit Kleidungsstücken und Andenken aus ihrer Kindheit. Einen Gegenstand nach dem anderen holte Lexan aus den Tiefen des Schranks heraus und bettete ihn zwischen seine Hemden. Auf einmal drehte er sich zu Mino um, auf seiner Hand saß ein Vogel, geschnitzt aus hellem Holz.

      »Den hat Vater gemacht«, sagte er langsam.

      »Ich weiß.« Mino blickte an ihrem Bruder vorbei zum Fenster. »Ich kann mich noch daran erinnern.«

      Lexan zögerte. »Ich werde ihn hierlassen. Für dich.« Er legte die kleine Figur in die Hand seiner Schwester. Mino zwang sich dazu, sie anzusehen. Es war eine Möwe, die Flügel ausgebreitet, die Struktur ihrer Federn so lebensecht ins Holz geritzt, dass man, bevor man sie berührte, fast erwarten konnte, dass die Figur so weich wie ein echter Vogel sein würde. Aber das war sie nicht. Hart war sie und schwer, zum Fliegen absolut untauglich.

      »Danke«, sagte sie und biss sich auf die Lippen, bevor sie sich dazu hinreißen ließ, noch mehr zu sagen, Worte, die sie später mit Sicherheit bereuen würde.

      »Willst du nicht doch mit?«, fragte Lexan leise. »Wir könnten ihn gemeinsam suchen.«

      Mino sah auf. »Vater ist seit zehn Jahren fort«, sagte sie schroff, »er ist tot.«

      »Ich weiß, dass Mutter das glaubt«, sagte Lexan. »Aber du? Denkst du das wirklich? Wir haben beide gesehen, wie er fortgesegelt ist. Weißt du noch, wie wir geweint haben, du sechs Jahre alt, ich vierzehn? Damals habe ich gewusst, dass er Rinland finden würde.«

      »Aber geweint hast du trotzdem«, erinnerte Mino ihn.

      »Weil er uns verlassen hat, ja.«

      »Und jetzt willst du uns verlassen? Wie kannst du uns das antun? Wie kannst du das Mutter antun?« Sie hatte sich so fest vorgenommen, nicht zu betteln. Wie konnte man jemanden festhalten, der fortwollte? Aber der Abschied rückte immer näher und in ihr wuchs die Panik. Ich verliere ihn, dachte sie, es geschieht jetzt, ich verliere ihn.

      Lexan setzte sich neben Mino aufs Bett. »Du meinst, wie kann ich dir das antun, nicht wahr?«

      Mino drehte das Gesicht fort.

      »Du bist meine Schwester. Du wirst es immer sein. Aber ...«

      »Früher gab es kein Aber für dich.«

      »Dann komm mit! Wir können gemeinsam auf die Reise gehen! Ich möchte dich so gerne dabeihaben. Stell dir vor, unser gemeinsames Abenteuer. Wir segeln der untergehenden Sonne hinterher, wir folgen ihr bis hinter den Horizont. Mino! Wie kannst du hierbleiben? Es wird sein wie damals, als Vater abfuhr. Willst du wirklich am Ufer stehen bleiben und winken? Ich wollte schon damals mit dabei sein. Ich hätte es tun sollen, weißt du? Vater wollte, dass ich es tue. Aber Mutter ... Nun ja, du weißt ja, wie sie ist.«

      »Sie ist jedenfalls