Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ringelnatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027203697
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ich zuweilen spät abends dort noch Briefe frankierte und sonst niemand mehr zugegen war als der eifrige Freudling, der still über seinen Büchern saß, dann spielten auch vierbeinige Mäuse, und es raschelte zwischen den Frühstückspapieren in den Papierkörben.

      Bald war ich eingelebt, kannte die Leute und ihre besonderen Eigenheiten. Es war ein großes Stück Gemütlichkeit in diesem Kontorleben.

      Die Firma war sowohl in ihrem geschäftlichen Gebaren wie auch in ihrer Haltung zum Personal hamburgisch vornehm. Einmal wurde ein Dampfer für uns gechartert, auf dem wir eine lustige und luftige Tagespartie unternahmen. – Ich erhielt als Lehrling kein Gehalt, aber zum ersten Weihnachten eine große und zum zweiten Weihnachten eine noch größere Gratifikation.

      Herr Alfeis bewilligte mir auch Sonderhonorare für eine Zeichnung und für einen Aufsatz, die ich in meiner Freizeit angefertigt hatte. Zeichnung wie Aufsatz stellten eine Propaganda für das Bedachungsmaterial Ruberoid dar und wurden zur Reklame verwendet.

      Mit der Fabrik kam ich nicht in Berührung, aber man gab mir auf Wunsch Gelegenheit, das Dachdecken mit Ruberoid zu erlernen. Später wurde ich dann manchmal zur Kontrolle von Dacharbeiten in die nähere und weitere Umgebung gesandt. Das war jedesmal eine willkommene Abwechslung, bei der ich mich sehr wichtig fühlte.

      Ich wohnte in der Großen Reichenstraße bei einer Frau Blome, die auch einen Privatmittagstisch führte. Meine ersten Ölbilder entstanden, ein Dachpanorama und ein Kriegsschiff. Ich dichtete und bekam die Gedichte von der Jugend, vom Kladderadatsch, von den Fliegenden Blättern meistens zurück, obwohl ich meine Begleitschreiben bald stolz, bald neckisch, bald überbescheiden, versuchsweise fast jedesmal anders abfaßte.

      Mein Vater zahlte mir ein regelmäßiges Monatsgehalt und ermöglichte mir, daß ich abends eine Handelsschule besuchte, um mein Pidgin-Englisch zu verbessern und Spanisch zu lernen.

      Auch Klavierstunde nahm ich. Bei einem alten Pianisten. Der hatte einen großen Kater. Als ich den einmal in den Schwanz zwickte, schob mich der Lehrer zur Tür hinaus und sagte, ich möchte nie wieder zu ihm kommen.

      Nach dem Hafen und zu Seidlers ging ich immer seltener. Freudling hatte mich in eine neue Gesellschaft eingeführt, die in einer anderen Gegend hauste. Das waren ehemalige Kunstmaler, die nun als Anstreicher ihr Brot verdienten. Im übrigen aber ein freies Künstlerleben führten. Lustige Mädchen nahmen daran teil, so die Gärtnerstochter Tetsche aus dem letzten Hause Hamburgs, die auf der Vorortbahn zum Vergnügen die Notbremse zog und dann so unbezwingbar lachen konnte, daß ihr die Beamten verziehen.

      Von den Malern war Hein Mark der Mittelpunkt. Eines Tages bekam er einen Auftrag. Alles jubelte, denn wenn Hein Mark Geld erhielt, dann hatten alle zu trinken und zu essen. Hein Mark hatte den Auftrag, einen Schrank einer Bordellwirtin gelb anzustreichen.

      Ich bat ihn, mich als Gehilfen mitzunehmen. Er lieh mir einen Malkittel und gab mir einen Farbtopf in den Arm. So zogen wir ins Bordell. Da die Wirtin aber noch schlief, mußten wir lange bei den Mädchen warten. Die bewirteten uns nun als Privatbesuch sehr gastlich mit Kaffee und Kuchen, und es war interessant, sie von der anderen Seite kennenzulernen.

      In der Handelsschule wurde ich mit Willy Telschow bekannt. Er war Lehrling in einer Kaffeefirma. Wir schwänzten gemeinsam die Stunden, schimpften auf den knöchernen Direktor Beiden und trieben allerhand Allotria. Ich brachte ihn zu Freudling und Hein Mark. Wir lebten lustig und schwärmten begeistert.

      Meiner Seemannsliebe Meta war ich inzwischen ganz entfremdet. Ich weiß nicht mehr, ob wir im Zwist geschieden waren oder ob ich sie einfach gemieden hatte. Einmal sah ich sie flüchtig wieder, ohne sie aber anzusprechen. Das war, als die Michaeliskirche abbrannte, das von den Hanseaten und von allen deutschen Seeleuten geliebte Wahrzeichen der Stadt Hamburg. Am 3. Juli 1906. Da war ich im Menschengewühl dicht vor der brennenden Kirche auf dem Kraienkamp. Neben mir stand die Frau des Türmers und winkte zum Turm hinauf zu ihrem Mann, der, durch die Flammen abgesperrt, von einer Brüstung herabwinkte. Bis er verbrannte.

      Ich hatte die vorgeschriebene Kontrollversammlung versäumt und erhielt Nachricht, daß ich deswegen mit vierundzwanzig Stunden Arrest bestraft würde. Ein Unteroffizier in Waffen führte mich Zivilisten den weiten Weg nach Altona zum Militärgefängnis. Da aber an dem Tag die Zellen dort alle besetzt waren, ließ man mich wieder gehen und vertröstete mich auf andermal. Bei dem andernmal holte mich ein gemeiner Soldat ab. Der fragte, ob ich einverstanden wäre, daß er mich abtransportiere. Ich könnte als Unteroffizier ja eigentlich einen Unteroffizier verlangen. In seiner Abteilung wäre aber gerade kein Unteroffizier frei. Es lockte mich, den Gemeinen abzulehnen. Er war aber so hilflos und gutmütig, daß ich mit ihm ging. Unterwegs beschwatzte ich ihn, mit mir verbotenerweise in einer entlegenen Schenke einzukehren. Dort besoff er sich auf meine Kosten so sehr, daß er, nachdem er mich im Arrestlokal unter vorschriftsmäßigem Zeremoniell abgeliefert hatte, selbst abgeführt wurde. Man nahm mir die Hosenträger ab, damit ich mich nicht erhängen könnte. Ich verbrachte vierundzwanzig abscheuliche Stunden bei Wasser und Brot. Kaum erträglich, obwohl meine Phantasie viele Spiele in der kahlen Zelle erfand.

      Mit Telschow zusammen nahm ich 1906 Tanzunterricht bei Herrn Eckardt. Polka, Rheinländer, Menuett, Moulinette, Quadrille, Walzer. Ach Walzer! Ich gab mir die erdenklichste Mühe, aber Walzer lernte ich nie. – Als der Unterricht soweit fortgeschritten war, daß wir zum erstenmal mit den Damen zusammen tanzten, verliebte sich Telschow sofort in die gleiche Dame wie ich. Wir schwuren uns, es ehrlich abzuwarten und zu ertragen, für wen von uns »Schwälbchen« sich entscheiden würde. Es stand schlimm für mich, denn ich hatte krumme Beine, eine lange Nase und einen Gang, der ebenso unsicher war wie meine Handschrift. Telschow dagegen war ein stattlicher Bursche, der sich mit einer spaßigen Eitelkeit kleidete und pflegte. Schwälbchens Schwester nahm auch an dem Tanzkursus teil. Die beiden pflegten nach der Stunde mit dem Alsterdampfer heimzufahren. Um nun Schwälbchens Meinung über uns zu ergründen, steckten wir uns hinter Freudling. Der richtete es so ein, daß er zur gegebenen Zeit auf dem Dampfer neben unsere Tanzdamen zu sitzen kam. Da hörte er zwar, wie diese über uns sprachen und daß sie mich den »kleinen Frechen« nannten. Aber eine Stellungnahme war aus dem Gespräch nicht zu entnehmen. Und das einzige Resultat dieses Manövers war, daß Freudling künftig an unseren Liebeserlebnissen mit Schwälbchen als Dritter teilnahm.

      Eine unbändige Tanzwut überfiel uns. Als der Eckardtsche Kursus beendigt war, machten wir alle öffentlichen und privaten Bälle mit. In den verschiedenen Sälen des Etablissements Sagebiel fanden allabendlich mehrere statt. Wie besuchten sie alle, indem wir uns hineinschlichen oder hineindrängten. Dann fielen wir häufig sehr auf, besonders ich, der ich den Walzerschritt nicht begriffen hatte und statt dessen höchst sonderbare und kühne Sprünge machte.

      Mein bergmännischer Bruder richtete sich eine Wohnung in Lüneburg ein, weil er in der Heide nach Kali bohren sollte. Da zog ich denn zu ihm, und wir führten zusammen nachts ein flottes Junggesellenleben. Ich mußte morgens sehr früh aufstehen, um den Schnellzug nach Hamburg zu erreichen. Mein Bruder als Älterer und wohlbestallter Bergdirektor bezahlte, was wir im Wirtshaus verzehrten. Um mich dankbar zu zeigen, brachte ich ihm eines Nachts ein Mädchen aus Hamburg mit. Er schlief aber schon und nahm das Geschenk nicht an.

      Im Januar 1907 wurde ich Kommis und ließ mich nach Leipzig versetzen, wo ein Herr Kirchner die Ruberoidgesellschaft vertrat. Der wohnte mit seiner jungen Frau in einer hübschen Wohnung. Mir wurde dort ein Zimmer als Büro eingerichtet, wo ich nun auf der Maschine klapperte und andere Arbeiten verrichtete. Mit der prickelnden Aussicht auf ein Fenster vis-à-vis, hinter dessen durchsichtiger Gardine sich zuweilen eine schöne Dame unbeobachtet glaubte und an-und auszog.

      Herr Kirchner war ein seriöser Reserve-Offizier. Er liebte das Reiten und reiste auch geschäftlich zu Pferd.

      Ich meinte, die Tätigkeit eines Reisenden würde auch mir liegen und richtete an die Stammfirma nach Hamburg sehr bald den Vorschlag, man möchte:

      Erstens. Mein Gehalt erhöhen (ich nannte eine verhältnismäßig hohe Summe).

      Zweitens. Eine Stenotypistin neben mir engagieren, damit ich mich gelegentlich auch als Reisender betätigen könnte.

      Drittens. Mir zu diesem