Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Ringelnatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027203697
Скачать книгу

      Bei den Schlächtern und Milchhändlern, die mein Kleingeld gegen größere Münzen einwechselten, zu welchem Zwecke ich die Pfennige, Fünfer und Groschen hübsch gleichmäßig in Häufchen auf den Tisch zählen mußte, erhielt ich nachdem fast jedesmal ein Zipfelchen Wurst, einen Trunk frischer Milch.

      Es waren malerische Straßen, die ich zurücklegte. Da mein Geld wuchs und mir die Gelegenheit, es zu verausgaben, meist gastfrei abgeschnitten wurde, so konnte ich mir's bald leisten, für längere Strecken die Rheindampfer zu benutzen, und auch auf diesen Fahrten schlug ich Geld aus meinen wimmernden Saiten.

      Vor Rotterdam ballten sich Besorgnisse in mir. Ob man mich an der Grenze anhalten und ausforschen, für einen Stromer halten und zurückweisen würde. Aber alles verlief dann gut. Ich überschritt mit Herzklopfen, doch unbehelligt die Grenze und bezog ein Quartier in einem schlichten Gasthaus, wo ich die Miete für eine Nacht im voraus entrichtete.

      Am nächsten Morgen forderte ich im Büro der Wilson-Line ein Ticket zweiter Klasse nach Hull für einen Dampfer, der noch am selbigen Abend abdampfen sollte. Das Billet kostete fünfzehn Schillinge; dar über hatte ich mich bereits in Frankfurt orientiert.

      Der Herr am Schalter sprach gut deutsch. Bevor er mir den Fahrschein einhändigte, fragte er, wieviel Geld ich bei mir hätte. So oft am Tage hatte ich meine Schätze überzählt, ich wußte bis auf den Pfennig, was ich besaß. Ich antwortete prompt und lustig: »Neunundvierzig Mark und zweiundzwanzig Pfennige.«

      Der Schalterbeamte zuckte die Achseln. »Ich bedaure«, sagte er, »Sie können nicht reisen. Sie müssen in England fünf Pfund, also hundert Mark, vorweisen können. Ich darf Ihnen den Fahrschein nicht ausliefern.«

      Es gab ein Hin und Her von Reden, die meinerseits entrüstet, flehend, verbittert klangen. Der Angestellte der Wilson-Line blieb ruhig und höflich und unerschütterlich. Ich wankte hinaus durch Straßen, nach dem Hafen.

      Der Anblick der Schiffe und alles, was mich sonst seemännisch hätte anheimeln müssen, ließ mich nun kalt, war beschattet von dem Gedanken, daß ich so nahe am Ziel wieder umkehren sollte. Ich sann auf einen Ausweg. – Der Herr am Schalter war nicht allein höflich, sondern sogar herzlich gewesen. Ich wollte ihn noch einmal bestürmen.

      Er hörte mich freundlich an. Er überlegte. Mir ward heiß vor Hoffnung. Er fragte: »Haben Sie noch einen anderen – einen besseren Anzug?«

      »Jawohl!« sagte ich eisern, und mein Gehrock, ein schneeweißes Hemd und ein nagelneuer Kragen blähten sich in meinem Hirn.

      »Ich will nichts gesagt haben«, sprach der Herr weiter und ließ seine Stimme sinken, »aber wenn Sie erster Klasse fahren, dann kostet das Billett dreißig Schillinge, und Passagiere erster Klasse hält man in England nicht an.«

      Ich flog davon, wusch mich, als wäre ich in Tinte gefallen, legte neue Wäsche und den überlangen Gehrock an. Darauf ließ ich mir von einem Friseur Haare und Bart stutzen, und wenn dieser Mann mich fragte: »Wünschen Sie Puder –« oder: »Soll ich etwa – –«, dann unterbrach ihn mein sicheres »Certainly!«

      Mit koketten, kurzen Tänzelschritten betrat ich wieder die Geschäftsräume der Wilson-Line, verbeugte mich steif und gemessen vor meinem lächelnden Gönner und empfing das Billet erster Klasse nach Hull.

      Als ich mich einschiffte und die Stewards mich fatal entgegenkommend empfingen, hatte ich einen peinlichen Stand, den Eindruck gentlemanlike und mein Köfferchen aus Segeltuch in Einklang zu bringen. Ich kam mir wie ein Hochstapler vor und war viel zu naiv, um etwa einfach den Spleenigen zu spielen.

      Das Schiff war in der Hauptsache Frachtdampfer und führte nur wenige Kabinen. Außer mir war auch nur noch ein Passagier, eine Dame, an Bord, deren elegante und interessante Erscheinung Aufsehen erregte. Es lockte mich unwiderstehlich, ihre Bekanntschaft zu machen. Als uns in dem luxuriösen Salon gemeinsam serviert ward, stellte ich mich kühn vor, womit sie, vermutlich aus Langerweile, zufrieden schien.

      Sie kam aus Venedig, und wir plauderten über diese auch mir bekannte Stadt. Und während ich im Laufe der sich vertiefenden Unterhaltung durch meine englischen Unkenntnisse viel Sprachunheil und komische Mißverständnisse anrichtete, gerieten wir in eine warme, nahezu vertrauliche Stimmung. Es war mir sehr angenehm, daß wir später auf das nur spärlich beleuchtete Promenadendeck übersiedelten. Denn dort brauchte ich nicht mehr meine Beine krampfhaft übereinanderzuschlagen, um ein Zigarettenbrandloch zu verdecken, brauchte nicht immer wieder meine zu Boden gerutschten Gehrockschöße zu raffen und die Raffe zwischen Stuhl und Gesäß festzuklemmen. Auch war ich endlich den neugierigen Blicken der Stewardeß entzogen.

      Wir räkelten uns in Faulenzerstühlen. Es war eine unvergeßliche, erfrischende Nacht. Der Himmel leuchtete sternenlos in weitem Grau. Das Meer war schwarz und brausend bewegt, und das Schiff stampfte, von Wellenschaum wie von einem Spitzenkragen umgeben. Ich saß als Passagier erster Klasse neben der reizenden, etwas sentimentalen Miß. Wenn sie geahnt hätte, daß ich keine zwölf Schillinge mehr besaß!

      Sie wird viel mehr gemerkt und geahnt haben, als ich damals annahm. Wie aber legte sie sich das wohl aus? Im guten oder im bösen Sinne?

      Es ward kein Roman aus unserem Zusammensein. Als sie sich zurückzog, verabschiedeten wir uns befriedigt höflich. Sie trug noch ein Shakespeare-Zitat in das Schiffsgästebuch ein, ich dichtete selbst ein Verschen darunter, und dann ging ich noch lange mit unruhigen, süßen Gedanken auf Deck auf und ab.

      Als anderen Tags die Zollbeamten mein Gepäck revidiert hatten und ich mit diesem, um die Stewards herumlavierend, von Bord ging, sah ich meine Dame auf dem Landungssteg noch einmal wieder. Ich verabschiedete mich von ihr, auffallend laut. Sie reichte mir noch ihre Visitenkarte. Darauf stand: »Azubach Hines, Wakefield.«

      Und niemand hielt mich an. Ich stand in Hull mit weiter Brust. Ein zerlumpter Gassenbube bot sich mir aufdringlich als Gepäckträger an. Ich fragte, ob er ein billiges Zimmer für mich wüßte. Er ließ sich einen Schilling vorauszahlen und geleitete mich in eine Pension Huttstreet 22, wo auch der deutsche Pastor logieren sollte.

      Ein Fräulein Scott leitete dieses Privatlogierhaus. Sie wies mir ein Zimmerchen an, daß six shilling six pence pro Woche kostete, und ich war beglückt darüber, ein Stück Seife vorzufinden.

      Durch Erfahrungen belehrt, hatte ich mir fest vorgenommen, vor allem und sofort mich nach Arbeit umzutun. Es durfte nicht geschehen, daß ich wieder heimlich und voll Angst zwischen Zementsäcken schlief. Aber als ich gewaschen und frisiert die Pension verließ, konnte ich mich noch nicht bezwingen, sondern schlug die Richtung nach Blooms Haus ein.

      Das Boardinghouse Bloom nach sechs Jahren einmal wiederzusehen, war doch das Ziel meiner Reise gewesen. Hatte ich nicht deshalb meine Frankfurter Stellung, meine neue, gesicherte Stellung aufgegeben?

      Ich eilte, von einem heimwehähnlichen Gefühl getrieben, dem Prospectplace zu.

      Und doch bog ich unterwegs unwillkürlich vom direkten Kurse ab und stand wenige Minuten später Wilberforce gegenüber.

      Das Denkmal war selbstverständlich noch da. Es war nicht gestohlen.

      Ich starrte den berühmten Philanthropen, den großen Menschenfreund lange an. Ich bemühte mich dabei, seinen Namen in der Art und Weise einer englischen Frauenstimme auszusprechen. – –

      Blooms Haus war verschlossen und hatte die Fensterläden wie Augenlider niedergeschlagen. Ich trat in den Ausschank, wo ich einst täglich für Mistreß Bloom heimlich Stout, Ale und Whisky besorgt hatte.

      Ich hörte, Blooms wären seit Jahren verzogen, aber wohin, wäre unbekannt.

      Andere Nachbarn erinnerten sich nicht einmal mehr. Die Frau eines Polizisten erkannte mich als Blooms cook. Sie wußte nur, daß Blooms seit Jahren weitab wohnten. Sie nannte mir den Namen der Straße und beschrieb den Weg. Ich sollte dort nach Blooms garden fragen.

      Im Laufschritt legte ich den Weg zurück. Blooms garden bestand aus zwei schmalen Gemüsebeeten und aus einer Bretterbude, darin Herr und Frau Bloom Sodawasser verkauften. Beide waren zugegen, aber ich erschrak