Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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ganzes Leben noch einmal durchkosten; dann wird es sich ja zeigen, ob ich zu Grunde gehen muß oder nicht. Jedenfalls will ich nicht gleich einem Narren zufällig in eine Grube stolpern und darin umkommen.«

      Dann lehnte er sich zurück und sah lange in die Nacht über sich, um endlich mit ganz leiser Stimme seine Erzählung zu beginnen:

      »Es läßt sich streiten, ob es besser sei, von seinen Ahnen zu wissen, oder über die Geschichte seines Geschlechtes im Unklaren zu bleiben. Sicher hat manchen der böse Geist deswegen unterjocht, weil die Versuchungen seines Blutes und die Kenntnis der Eigenschaften seiner Väter in ihm die Überzeugung hervorbrachten, er sitze in den Klammern eines unentrinnbaren Fatums. Jedenfalls weiß ich von meinen Voreltern gerade so viel und so wenig, daß meine Phantasie Boden genug hat, allerhand abenteuerliche Möglichkeiten für wahr zu halten.

      Gesehen habe ich von meinen Großeltern keines, und das Gesicht meiner Großmutter, von kindlichen Einbildungen geschaffen, schimmert manchmal aus der untersten Schicht frühester Erinnerungen neben den Rätselgestalten erster Märchen zu mir her, daß es geheimnisvoll und niegewesen wie diese erscheint. Trocken, herb und bitterböse starrt es aus einem roten Nebel herauf, und jene schreckhafte Luft steht um sie, die das Erscheinen des Alps in dämmrige Kinderzimmer bringt. Noch heute, wenn ich mit zurücksinkendem Gefühl mich jenen Gegenden meiner Seele nähere, in der ihr Abbild ein spukhaftes Leben führt, überkommt mich eine solche Beklemmung, daß ich mit meinem Blick ins Licht entrinnen muß.

      In heidnischen Städten bauten die Priester das Bild furchterregender Gottheiten auf einem Hügel über allen Dächern, damit die Menschen sich dem Banne überirdischer Not nie entziehen könnten. So wirkte das Leben dieser Frau auf das Schicksal unserer Familie.

      Nur selten, und dann vorsichtig und karg sprachen meine Eltern über die Geschicke meiner Ahnen, und so sind diese gelegentlichen Bemerkungen und ein Brief, den ich nach dem Tode meines Vaters in der Schublade seines Stehpultes fand, die einzigen Quellen für die Geschichte meiner Großeltern. Danach stammten beide aus Baden, und mein Großvater bekleidete beim Ausbruch der Revolution ein höheres juristisches Amt. Nach dem Schreiben zu urteilen, das er aus Offenburg an seine Frau, meine Großmutter, richtete, muß er ein unruhiger, leidenschaftlicher Mann gewesen sein. Als er, um der Freiheit besser dienen zu können, seine Stelle im Stich ließ, ging meine Großmutter von ihm und suchte mit ihren beiden Söhnen, damals noch Knaben im zarten Alter, vor der steigenden Unruhe Schutz auf dem väterlichen Gut im Elztal. Aus dem eben erwähnten Briefe ist zu entnehmen, daß meine Großmutter damals noch eine, wenn auch feste und stolze, aber im Grunde heitere Frau gewesen sei, die nicht bloß aus Ärger über Vernachlässigung den Mann auf Zeit verließ, sondern vor allem deswegen in den Wald auswich, weil ihr diese allgemeine Gleichmacherei und der Sturm auf geheiligte Institutionen mit Hilfe ausländischer Abenteurer ein Greuel war.

      Aber die Abwendung seiner Familie trieb meinen Großvater nur immer tiefer in den Trubel. Er zog am 13. Mai mit vor das Großherzogliche Schloß, reiste ruhelos im Lande umher, um die Unzufriedenheit zu schüren, und als durch den Einmarsch der Preußen das wirre Freiheitsregiment in Gefahr geriet, trat er in die Armee der Insurgenten ein. Auf diese Nachricht verließ meine Großmutter heimlich ihre Eltern und wagte sich, als Bäuerin verkleidet, unter die Aufrührer, nicht, um an dem Kampfe teilzunehmen, sondern ihn im letzten Augenblicke vor dem Schlimmsten zu bewahren und zu sich herüberzureißen. Aber sie kam zu spät. Im Treffen bei Waghäusel ereilte ihn sein Geschick. Als nämlich an diesem Tage auf die Kunde vom Herannahen des Groebenschen Korps die Freischärler den Widerstand aufgaben und die Flucht ergriffen, stürzte er, wohl aus Verzweiflung und Zorn über ihre Feigheit, allein gegen die feindlichen Bajonette und fand so den Tod, den er gesucht hatte. Meine Großmutter hat seinen Leichnam vom Felde geholt und begraben. An diesem Tage wurden wohl ihr Lebensmut und ihre ganze Seele mit verscharrt. Sie verließ ihre Heimat und kam 1850 nach Heisterberg. Schon damals soll sie das Aussehen einer Greisin gehabt haben, ein langes, mageres Gesicht voll tiefer Längsfalten, die hohe Stirn gefurcht, und einen bitteren, drohenden Ernst in den schwarzen Augen. Bis an ihr Lebensende ging sie nie anders als in tiefer Trauer; nicht nur der Kleidung nach.

      Wortlos hat sie die Jahre durchmessen, ohne Lächeln, ohne Grimm, ernst und fern, daß alle, die sie gekannt, bei ihrer Berührung Schmerz und Grauen ergriffen hat, weswegen jeder glaubte, sie sei von krankem Tiefsinn besessen. Aber sie wußte stets, was sie tat, wenn die Mächte, denen sie gehorchte, auch den Menschen verborgen blieben. Wohl um ihre beiden Knaben aus Verhältnissen zu reißen, die sie leicht in die unselige Bahn ihres Vaters ziehen konnten, verließ sie ihr Vaterland und gründete sich zu Heisterberg in Schlesien mit den Resten ihres Vermögens eine bescheidene Existenz. Die Monotonie ihres Schmerzes, die übertriebene Strenge eines verängsteten Herzens, all die Enge, Härte und Unnahbarkeit, die um diese todeswunde Frau immer lasteten, waren kein Boden für die Buntheit und Freude, nach der nun schon alle Kinder langen, nach der auch ihre beiden Knaben hungerten. Der jüngere, eine ungebärdige, hochbegabte Seele, zerriß die Kette des mütterlichen Regiments als siebzehnjähriger Bursche, indem er vom Krankenlager weg, kaum genesen, mit der Nonne, die ihn gepflegt hatte, durchging und nie mehr etwas von sich hören ließ. – Meine Großmutter muß die bei Frauen so seltene Scheu vor vollzogenen Tatsachen besessen haben, denn sie rief weder nach dem Verlorenen, noch holte sie sich ihren Älteren, meinen Vater, heim, der in jener Zeit schon als Geselle in der Fremde arbeitete. Aber ihr war auch nicht mehr soviel Mut geblieben, das Unabwendbare still hinzunehmen. Nicht, daß man anfangs ihrem Leben die leiseste Wirkung des schweren Schlages angemerkt hätte. Still und aufrecht, fern und gelassen ging sie durch ihre Tage. Gegen den Herbst hin aber kam langsam eine ihr gänzlich fremde Weichheit über sie. Die sonst stets geschlossenen Fenster ihrer Wohnung standen den ganzen Tag offen, und die froh-unruhigen Rufe der Wandervögel drangen in die stumme Stube. Dürre Blätter, die ein Windstoß auf die Dielen legte, hob sie mit vorsichtigem Finger auf, als seien es Schmetterlinge, und wenn sie in das große Sterben draußen herniederwirbelten, schaute sie ihnen mit einem Gesicht nach, unter dessen Unbeweglichkeit der Glanz einer großen Freude zu schimmern schien. So stand sie und sah oft stundenlang durch die Kronen des Gartens auf den Himmel, der sich von Tag zu Tag mehr umwölkte. Als die Zeit herangekommen war, in der durch tiefe, unbewegliche Nebel dann und wann ein rotes, windvergessenes Blatt taumelt, ein letzter, müder Sonnenfunke, erhob sie sich nicht mehr von dem Stuhle, den sie sich hart an die Scheiben gerückt hatte. Vom Morgen bis in den Abend hinein saß sie in seltsam aufgereckter Haltung, und die Füße waren zusammengestellt, wie in steter Bereitschaft zum Gange. Hin und wieder, je weiter dies unheimliche Erstarren fortschritt, immer länger, ließ sie ihren Kopf in den Nacken sinken und starrte mit weiten, unbeweglichen Augen über sich. Dort droben in der Tiefe sah sie wohl Wege, deren unentwirrbaren Verschlingungen sie nachsann, und hob sie die Stirn wieder herüber, so lag das unerbittlich herbe Antlitz in dem weißen Haar wie das Gesicht einer Toten im Schnee. Nie mehr entkleidete sie sich; selbst während des Schlafens kamen die Schuhe nicht von ihren Füßen, bis sie eines Tages nicht mehr aufstand. Von der Aufwärterin, die an ihrem Bette erschien, verlangte sie Schreibzeug und Papier. Mühsam sitzend, kritzelte sie das einzige Wort »Komm!« auf eine Karte und adressierte sie an meinen Vater. Als der nach drei Tagen eintraf, lag sie schon in den Schatten des Todes. Mit einem bösen Blick vertrieb sie die Wärterin aus der Stube. Dann hörte man den Riegel im Schloß der Tür gehen.

      Am Abend trat der Herbeigeeilte blaß und tiefernst aus dem Krankenzimmer. Drin aber lag eine Tote. Was die Sterbende in diesen letzten Stunden zu meinem Vater geredet, habe ich erst sehr spät erfahren.

      Unnatürlich gereckt, wie in der Entschlossenheit eines zu allem bereiten Willens, lag die Leiche im Sarge, angetan mit ihren werktäglichen Kleidern, die Schuhe an den Füßen, ein Tuch um die Schulter geschlagen. Zwischen den zu Fäusten geschlossenen Händen steckte ein Kreuz. Auf den halbgeöffneten Lippen, in den heraufgekehrten Sternen der weit aufgerissenen Augen lag ein letztes, verzweifelt-furchtbares Drohen. So ist sie, ihrem Wunsche gemäß, auch begraben worden.

      Wenige, meist alte Weiber, die aus Gewohnheit und Langeweile mit jeder Leiche gehen, erwiesen ihr die letzte Ehre. Wir waren eine fremde Familie, von weit her, meine Großmutter hatte nie Anschluß gesucht, sondern systematisch jede Annäherung durch Verdoppelung der Herbheit von vornherein abgelehnt. Was sollte man sich um die Tote kümmern? Die Handvoll Leute standen nicht harmlos in dem wohligen