Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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hatte zu essen aufgehört und starrte, die Arme aufgestützt, jetzt stumm auf den Tisch.

      »Du willst damit sagen,« sprach ich, »daß eigentlich nicht Liebe sie zusammengeführt hat?«

      »Liebe,« erwiderte er dumpf, »wenn man darunter die Tanzwanderung nach einer außerirdischen Sonne versteht, nein; aber insofern Liebe des Lebens tiefste, unumgängliche Notwendigkeit ist, ja. Trotzdem ehelichte mein Vater meine Mutter nicht, sondern nahm sie nur zu sich.«

      »Er schloß also eine Gewissensehe?« fragte ich.

      Faber lächelte spöttisch.

      »Nein, nein! Alles war komplett: Aufgebot, Trauung mit Ring, Weihe und Pfarrer. Gott bewahre! Aber sie blieben Getrennte auch nach der Vereinigung. Das weiß ich gewiß, denn ich erlebe es an mir bis heute. In jeder Neigung und Hoffnung, in jeder Sehnsucht und jedem Entschluß bin ich gespalten. Wir müssen, nicht weil wir wollen, sondern aus Zwang, aus unerbittlicher Not heraus. Ich kann eher aus der Welt hinausspringen als aus dem Tanz, zu dem die da drunten mir aufspielen.«

      Ich begnügte mich damit, den Kopf verneinend zu bewegen.

      »Nicht?« fragte mich Faber und sah finster aus.

      »Nein,« antwortete ich fest und ruhig, »denn dann hätte unser Leben keinen Zweck und keinen Sinn, als die Zwecklosigkeit und den Widersinn derer, die wir zeugen und dadurch in den Tod hetzen. Siehe, alle unsere Handlungen nach der Vergangenheit werten, heißt immer in der Nacht bei Lampenlicht arbeiten. Erinnerung ist eine Denktätigkeit. Können wir nicht Denkfehler begehen, und hast du vorhin nicht selbst gesagt, daß unter zweifelsüchtigem Bohren dein ganzes Leben sich in Spuk auflöst?«

      Faber saß auf diese Entgegnung eine Weile betroffen da, dann sprang er so heftig auf, daß sein Stuhl polternd zurückfuhr und begann, die Hände tief in die Taschen gewühlt, stark in der Stube auf- und niederzuwandern. Kaum war er dreimal die kurzen Dielen hin- und hergeschritten, als Liese die Tür geräuschlos öffnete, erschreckt stutzte und, weil ich auch aufstand, herankam und den Tisch abräumte. Sie war noch immer tiefblaß und verängstet. Faber aber trat sofort ans Fenster und sah hinaus. Ich nahm ein Buch, und darin blätternd warf ich dann und wann einen Blick auf die beiden. Ohne das Auge zu erheben, ordnete Liese alles, langsam und Peinlich genau, wie mir schien, mit Absicht trödelnd. Doch mein Freund regte sich nicht, sondern war in dem Anblick der schönen Nacht versunken. Da ging sie endlich, hielt in der Tür einen Augenblick inne, richtete ihren Blick nach Faber hin, als wolle sie ihn anreden, atmete aber nur tief und verschwand. Auf das Einschnappen des Schlosses erhob sich Faber eilig und ging ihr nach. Ich hörte ihn auf der Treppe gedampft und gütig auf sie einreden, die mit Trauer in der Stimme antwortete. Als er wieder hereingekommen war, trat er vor mich hin und schüttelte lächelnd den Kopf.

      »Ein seltsames Mädchen! Sie bildet sich ein, wir könnten sie noch zu dieser oder jener Hilfeleistung brauchen und ist mit nichts zu bewegen, nach Hause zu gehen. – Da wird sie nun da unten sitzen und gespannt auf jeden Laut und Schritt von uns lauschen. Was soll man da machen?«

      Die letzten beiden Sätze waren durch eine Pause von seinen übrigen Worten getrennt. Sie furchten die Stirn schon wieder mit der tiefen, bösen Falte über der Nasenwurzel und zitterten von Leidenschaft. Ich konnte nur nicht erkennen, ob diese Bitterkeit sein Ernst oder seine Maske war, und noch ehe ich mit behutsamen Worten an diesem Schleier rühren konnte, trat er schon wieder von mir weg und lehnte sich zum offenen Fenster hinaus.

      Er riß sich rasch von mir los, wie Menschen tun, die empfinden, daß des anderen Seele ein Ahnen auf sie richtet, dessen Aussprechen sie verhindern wollen. Ich folgte lächelnd und beugte mich neben ihm hinaus. Er machte mir Platz, so gut es ging, löste aber den Blick seiner Augen nicht von dem Himmel, der in reiner Bläue sich über dem tiefschwarzen Rücken der Feistelberge spannte. Das Licht seiner Steine zuckte und glomm unruhig, als flackere es unter der Wucht eines unhörbaren Sturmes.

      »Liese scheint mir von der Hartnäckigkeit besessen zu sein, die schwächlichen Menschen eigen ist.« Mit diesen Worten, die ich möglichst belanglos sprach, nahm ich gegen seinen geheimen Willen die Unterhaltung wieder auf.

      »Ja, aber sie hat die Hartnäckigkeit der Güte«, antwortete er nach einer Pause.

      »Dann, denke ich, müßte sie aber gerade deinem Wunsche nachkommen und zu Hause ihrer überbürdeten Mutter helfen. Du sagtest doch, sie sei die Älteste einer armen, kinderreichen Familie.

      »Nun, sie wird schon gehen«, sagte er nach längerem Schweigen und setzte bald darnach, um die Unfreundlichkeit seiner Worte abzuschwächen, wie mir anfangs schien, aus purer Verlegenheit hinzu: »Es ist ein Glanz, ein Glanz ... da drüben, rundum, die Sterne! ...« und seine Stimme brach wieder im Schweben ab.

      Aus tiefer, strömender Hingegebenheit redete nach kurzer Pause seine untergetauchte Seele zu sich: »... und sie kehren sich nicht daran, was ich von ihnen will, und wenn ich mich auch wegwende und trübsinnig auf meinen Schatten stiere, so blühen sie weiter hinter meinem Rücken. Vielleicht sind Ideen über das Leben die tiefsten Verfehlungen am Leben. Warum kann man nicht heute noch wie ein Kind sich genügen lassen an dem Schimmer, den uns das Licht ins Haar flicht? Die Welt ist ja nicht anders geworden. Das glimmt und strahlt noch wie in der Kindheit, und nichts hindert mich im Grunde, den Garten da drunten für das Gärtlein hinter meines Vaters Haus in der Wiesenstraße zu halten.

      Komm, setzen wir uns hinein.

      Unser kleines Haus war von irgendeinem armen Teufel, den niemand mehr kannte, an einen kurzen, jähen Hang gebaut worden und hielt sich nur mit einem tiefen Felsenkeller in der Erde fest. Mein Vater sagte einst: die alte Budike wird noch einmal ganz herunterrutschen und nimmt uns alle mitsammen mit, und wenn des Dorn-Schusters Haus drüben nicht stände, so spränge sie wohl über die Gasse hinüber und fiele gar hinunter bis auf die Brauergasse zwischen die Steinmauern.

      Da lag ich oft bis tief in die Nacht hinein und lauschte, ob das Haus sich aufmache, unversehens mit all den schlafenden Menschen den kühnen Gang zu wagen. Ich hatte einen festen Glauben an die friedliche Sicherheit seiner Mauern, wenn auch die vordere Wand sich schief gegen die Straße stemmte, als wehre sie herzhaft einem verborgenen Wagemut, der irgendwo seinen Sitz hatte. Ja, ich vertraute unserem niedrigen, hochgegiebelten Holzhause mit seinen verträumten Fenstern ganz. Und wenn es ja einmal anderen Sinnes werden sollte, so konnte nur der Wind schuld sein, von dem ich damals glaubte, er niste wie die Vögel in den Bäumen unseres Gartens, weil er auch so zu fliegen verstand wie sie und noch viel mehr. Am Tage war er unsichtbar; in der Nacht aber, wenn ich so lag und horchte, nahm ich wahr, wie er in den Bäumen aufwachte, die davon erschraken und erst hohe, klagende Töne ausstießen. Allein niemals kehrte er sich an ihre Angst, sondern wurde stark und stärker, daß endlich alle Bäume ganz laut zu schreien begannen, am lautesten der hohe Birnbaum am Pförtchen, an dessen Stamm die Hundehütte für unsern Murr stand. Selbst der Haselstrauch hinten an Sebalds hohem Bretterzaun ließ es sich nicht gefallen, und ich hörte ihn ärgerlich wispern, wenn die großen Bäume ein wenig still waren, um Atem zu schöpfen. Der Wind kehrte sich nicht an die Starken und die Schwachen; er schlug nur immer auf sie ein in schweren Stößen, bis er sich endlich aus ihren Kronen losgemacht hatte und in langem Brausen über unser Haus flog. Das sollte immer mitfliegen. Doch es mochte nicht, denn es wußte, wir alle schliefen in ihm und durften nicht gestört werden. Ob der Wind es auch stieß, so viel er konnte, daß es vor Angst bebte und mit seinen Fenstern klirrte, es wich aber doch nicht von der Stelle, unser braves Haus, sondern wehrte sich, so gut es ging, heulte mit den kurzen Essen, schrie kreischend mit seiner Wetterfahne und knirschte vor Wut mit den Wänden bis tief in die Erde hinein. Ein paarmal bog ich mich aus dem Bett und guckte hinaus in die Nacht. Da stand der Himmel strahlend blau, die Sterne flimmerten und flirrten scharf und grell, und dann und wann sah ich des Windes schwarze Wolkenflügel eilend darüber hinjagen, daß selbst die Sterne ihre schönen glänzenden Augen vor Entsetzen schlossen. Dann kroch ich schnell und ängstlich zurück und wühlte das Gesicht in die Kissen, weil ich dachte, nun würde das Haus doch nicht länger widerstehen, sondern gleich mit uns allen in die Brauergasse hinunterstürzen zwischen die Steinmauern. Ich schloß die Augen und fühlte schon bald, wie ich flog, wiegend und schwang immer weiter hinaus und hinauf, an den Sternen vorbei, bis in den Himmel hinein.