»Meine Karte ist eigentlich gegenstandslos geworden«, sagte er und lächelte mich traurig an.
»Bin ich zu spät gekommen?«
»Ja – und nein.«
Und als er sah, daß ich die Krücke meines Stockes fester umspannte, setzte er fort: »Aber, damit will ich Sie natürlich nicht verjagen. Wir wollen sehen.«
Wiederum schaute er zu Boden, schob mit der Spitze seines rechten Fußes irgend etwas zur Seite, rückte sich dann herauf und sprach im Hausflur hin:
»Liese! Machen Sie das Abendbrot zurecht.«
Ein gehorsames und ergebenes »Ja« antwortete, und ich sah, leise und eilig, ein Mädchen zur Hoftür hinaushuschen, das von einer seltenen Zierlichkeit war.
»Es ist die Tochter meines Nachbars, des alten Plaschkewebers. Sie besorgt die wenigen Aufwartedienste«, erklärte mir Faber, und seine Stirn umwölkte sich.
»Sie haben Verdruß mit ihr gehabt?« fragte ich. –
»Mit ihr nicht, mit mir, und zwar habe ich ihn jetzt«, antwortete er und sah gleich mir in das geöffnete Klassenzimmer, vor das wir getreten waren. »Haben Sie den Geruch überwunden?« fragte er nach einer Weile.
»Nun – freilich spür' ich ihn auch noch, aber was will man machen?«
»Eben, eben! Man will eben nichts machen. Durchaus will man nicht.«
Er lachte bitter und kehrte sich um.
»Haben Sie Lust, noch mein anderes Leben zu sehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, das Schulhaus ist so ein Symbolum meines Lebens. Denn es ist morsch, unwohnlich und gewährt mir nur noch in einem Winkel Unterschlupf.«
»So, sans phrase«, entgegnete ich leicht.
»Natürlich, sans phrase! Bloß so.« Er sprach eigentlich nicht mit mir, sondern redete nach Art der Einsamen mit sich, bitter und spöttisch, voll Hohn gegen sich.
Wir standen vor der Treppe zum Boden. »Da unten sind noch drei Zimmer und die Küche, aber...« Die Liese kam eben zur Hoftür herein. Faber unterbrach sich und sah nach dem Mädchen. Unter seinem Blick hielt es an.
»Wie Sie es gesagt haben, Herr Lehrer?« fragte sie mit glücklicher Unterwürfigkeit.
»Ja«, erwiderte Faber merkwürdig rauh.
Mit einem Glanz im Gesicht verschwand sie hinter der vernutzten Tür.
»Sie meint meine Anweisungen zum Abendbrot«, sagte Faber erklärend, und wiederum schlug sich die Falte tiefer über seiner Nasenwurzel nach der Stirn hin.
»Sie hat ganz sonderbar schöne, braune Haare«, bemerkte ich.
»Außerdem kocht sie ganz gut«, sprach er ironisch. »Ja, und dann dächt' ich, wir gingen nun in meine Bude. Bitte!«
Unter beißendem Lachen sprang er die Treppe hinauf. Er lief so schnell, daß ich ihm nicht folgen konnte. Noch ehe ich die steile Stiege emporgeklommen war, schloß er die Tür, und ich befand mich allein in einem schummrigen Dunkel. Halb von Grimm, halb von Scham erfüllt, kam ich im Aufstieg mit der Rechten an ein rauhes Gemäuer, das sich mir als der riesige Schornstein offenbarte, und stand gleich darauf an der niedrigen Tür. Eben kochte in mir der Zorn, und im Hineintreten fragte ich unvermittelt: »Ja, warum bin ich nun eigentlich zu spät gekommen?« stieß, während ich diese rauhen Worte sprach, schon nach dem dritten Schritt in die Stube an einen Stuhl und setzte mich, als sei ich von Faber dazu eingeladen worden. Der antwortete nichts, sondern kramte in einer geöffneten Kiste umher, aus der er bald dies, bald jenes Kleidungsstück herausnahm und in den rechts neben dem Eingang stehenden Schrank hängte. Nach einer Weile, als sei er eben jetzt von meinen Worten getroffen worden, hielt er inne, starrte einen Augenblick in den geöffneten Schrank, schloß mit sinnend zähen Bewegungen ihn und die Kiste, kehrte sich um, ließ seinen Blick über das Stübchen gleiten, sah mich dann tief an, nickte schmerzlich mit dem Kopfe und sagte: »Ja, Herr Kastner...« Seine Stimme klang trauervoll, und mit einer Armbewegung, als werfe er etwas von sich, setzte er sich auf einen Stuhl, stützte seine Arme auf die Knie und legte die Hände flach gegeneinander, indem er genau Finger auf Finger paßte. Als ich ihn so sitzen sah, dem schweren Klang seiner Stimme in mir nachlauschte und im Überschauen die Unordnung gewahrte, in der sich das Stübchen befand, erblickte ich in mir nicht nur das schmerzensblasse Gesicht Fabers, wie es aus meinen unruhigen Nächten mich angesehen hatte, sondern mußte auch daran denken, wie sicher mein Ahnen gewesen sei, das mir vor kurzen Stunden den vor mir Sitzenden als einen Menschen gezeigt hatte, der, vom Trittbrette eines abfahrenden Zuges herab, noch einige Worte zu mir reden wollte. Eben hatte ich mir vorgenommen, das peinliche Schweigen durch die Erzählung meiner nächtlichen Heimsuchungen zu brechen, als Faber den Kopf hob und bitter zu mir heraufsprach: »Warum sagen Sie denn nicht, was Sie von mir eben denken?«
»Da haben Sie recht,« erwiderte ich betroffen, »eben habe ich über Sie nachgedacht...«
Allein, noch ehe ich vollenden konnte, stand er auf, rückte geräuschvoll den schief in die Stube stehenden Tisch vor das einfache Sofa und unterbrach mich mit sarkastischem Lachen: »Nun, mein lieber Herr Kastner, warum schießen Sie denn da nicht los? Sie wissen doch, daß wir uns vor dem anderen nicht verbergen können.«
»Trotzdem Sie es wissen,« antwortete ich mit herzlicher Schonung des Aufgelösten, »unternehmen Sie es selbst, nicht bloß jetzt, sondern seit langem, einen Menschen zu täuschen, der den innigsten Anteil an Ihnen nimmt.«
Er blickte mich betroffen an und lud mich dann ein, am Tisch Platz zu nehmen. Als wir saßen, ich trotz aller Widerspenstigkeit auf dem arg mitgenommenen Sofa, er auf einem Stuhle mir gegenüber, sagte er mit unsicherem Lächeln: »Wie wäre es nun aber, wenn Sie sich täuschten in der Annahme, daß ich es auf die Täuschung des anderen abgesehen habe?«
»Dann bleibt zweierlei übrig: entweder der Zweifel an jeder Erkenntnis auf Grund von Tatsachen, oder die Überzeugung, der andere sei unsicher in sich.«
Die Folge dieser scharf zupackenden Antwort war ein lautes Gelächter Fabers, das er ausstieß, aufsprang und mit großen Schritten auf- und niederging. Dann nahm er langsam wieder seinen früheren Platz ein und, als müsse er irgend etwas Störendes am Bein seines Stuhles untersuchen, beugte er sich nieder und fragte: »Nicht wahr, weil ich vor fünf Wochen mich so unbegreiflich auf der Konferenz benommen habe?« Und weil ich nicht den Mut hatte, es ihm schonungslos ins Gesicht zu sagen, richtete er sich auf und wiederholte dringend dieselbe Frage: »Wie? So sagen Sie es nur gerade heraus!«
»Allerdings habe ich mir zum großen Teil wegen dieser Ihrer seltsamen Haltung die Meinung gebildet, Sie seien Ihrer nicht sicher. Denn wozu in aller Welt warfen Sie der engen, geknebelten Menge den Fehdehandschuh hin? Entweder Sie mußten frisch-fröhlich den Haufen niederrennen wollen, was doch wohl unmöglich ist aus vielen Gründen, die uns die Scham aufs Gesicht treiben müßte, oder Sie hätten am Ende des Vortrages in aller Kühle die Erklärung abgeben müssen, daß Sie die Entlassung aus dem Schuldienst erwarten, wenn man mit solchen Gedanken gegen den Geist des Amtes sündigt oder – – – Mein Gott, ich kann Ihnen sagen, daß ich in den Zeiten, da ich leidenschaftlich