Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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ich den Mann endlich. Er saß auf einem Haufen großer Steine am Bach, den Hut im Nacken, baumelte mit den Beinen und fuhr dabei träumerisch mit dem Stock in dem klaren Bergwasser umher. Der Glutdunst des Sommers zitterte über ihm. Nun reckte er sich aus, nahm den Stock aus den Wellen, stützte ihn auf einen Stein des felsigen Ufers. lehnte den Kopf auf seine Krücke und schien gegen die Erde zu sinnen. Gleich darnach ließ er das Lied, an dem er soeben so absonderlich herumgestimmt hatte, wieder aus sich herauswandeln. Es ging bedächtig an mir vorüber, seine Tonwellen formten in der Sommerluft ein greisenhaftes Weiblein mit jener süßen Züchtigkeit, die manchmal mit den weißen Haaren über Frauen kommt. Mit niedergeschlagenen Augen, einer buntblumigen Bänderhaube auf dem mageren Kopfe, die abgearbeiteten Hände auf der Brust gefaltet, so schwebte das Wesen des Liedes vor den Stämmen hin.

      Dann war es still.

      Nur das Bergwasser redete mit leisem Wellen eintönig, immerzu...

      Ich wußte, der Sänger war der Langgesuchte, und mit ein paar langen Schritten über das Wiesenstreiflein war ich bei ihm angelangt.

      Er schrak zu mir herum. Ein Paar brauner, blitzender Augen packten mich, daß ich schüchtern meinen Gruß sprach.

      »Guten Tag!« klang es unwirsch zurück.

      »Verzeihen Sie, ich bin in dieser Gegend nicht bekannt.«

      »Ich auch nicht. Bedaure, mein Herr! Adieu!«

      Scharf schnitt er die unbeholfene Anknüpfung ab, erhob sich und verließ mich mit einem stolzen Neigen seines scharfgeschnittenen Kopfes. Ein wenig ärgerlich strebte ich in einem Bogen um Wecknitz der Birkenlehne nach Raspenau hin zu, und als ich von der halben Höhe her noch einmal hinuntersah, erblickte ich ihn gerade die Stufen zum Schulhause emporschreiten. So war es also doch der Faber gewesen.

      Aber es gibt auf Erden keinen sichereren Weg, etwas in unsere Gewalt zu bekommen, als daß es sich uns versagt. Und ob ich auch, meinem Dorfe zuschlendernd, unwirsch die Steine des Weges mit dem Fuße wegschleuderte und immer wieder vor mich hinmurmelte: »Bin ich denn ein Hund?«, je näher ich Raspenau kam, um so mehr nahm eine geheime Sicherheit Besitz von mir, zwischen seiner und meiner Seele sei trotzdem ein Kontakt geschlossen worden, dessen Kraft uns auf irgendeine Weise nun zusammenführen müsse. Die Stärke dieses Glaubens bestand eben darin, daß ich keine wirklichen Gründe, als nur die Empfindung der Ähnlichkeit unserer Wesenheit besaß. Genug, ich vertraute der Unzerreißbarkeit des mystischen Bandes zwischen uns und unterließ von nun an jeden Versuch einer Annäherung. Indessen ward das Wetter zwischen mir und meinen nächsten Vorgesetzten erst launisch, dann trübe; ich hielt mich für unnötig gegängelt; das Mißbehagen mit manchen meiner Extravaganzen wurde mir mit beißender Schonung nahegelegt; meine Amtstätigkeit fand immer weniger Gnade, und ehe der Herbst das erste Gelb durch das Geblätter des Waldes geblasen hatte, begann ein immer lebhafteres Geplänkel intimer Feindseligkeiten zwischen mir und meiner nächsten Instanz. Die Kollegen, die so unendlich feine hygroskopische Organe für derlei Veränderungen besitzen, erlitten eine merkliche Einbuße an Sympathie zu mir. Christoph Dünnbier lächelte peinlich, wenn ich nur Alltägliches zu ihm sprach, beschützte die grauen, spärlichen Haarsträhnen seines kahlen Vorderhauptes mit der Rechten wie vor einem anziehenden Winde und ging immer von mir, als habe ich ihn um eine Summe Geldes betrogen. Ich regte mich über diese mir nur zu geläufig gewordenen Vorgänge nur sehr wenig auf. Nein, ich fand eine große Genugtuung darin, denn diese Wolke feiger Scheelsucht, die sich immer dichter um mich zusammenzog, brachte die Empfindung einer immer stärkeren Annäherung an Faber in mir hervor, so daß ich oft aus diesem Grau um mich leibhaftig das Paar seiner braunen, blitzenden Augen auf mich gerichtet sah, ein wenig überlegen zwar, doch mit einem Interesse, das nicht allzu spöttisch war.

      Dann kam der Winter und ich saß Tag und Nacht in meinem Stübchen und bemühte mich, diesen Kontakt mit einem Fremden zu zerbrechen. Zu diesem Zwecke wählte ich das Studium von Taines Geschichte der Entstehung des modernen Frankreichs. Das Versenken in die Vielfältigkeit äußeren Geschehens sollte mich heilen von dieser seelischen Monomanie. Denn, vielleicht zum größten Teil aus Trotz oder Stolz, ich hatte mir die Ansicht gebildet, diese nebelhafte Beziehung zu Faber sei nichts als ein Beweis der beginnenden Zersplitterung meiner Persönlichkeit. So sollte mich eine Wanderung durch die blutigen Zerklüftungen der französischen Revolution ablenken und innerlich zusammenschweißen. Aber die Vorstellung der Wirkung eines Buches auf uns ist immer anders als die Wirkung selbst. Dieser Krankheitsbericht über einen riesigen Wahnsinn, in dem alle Dramatik abgeschliffen ist, alle Tatsächlichkeit zu abstrakter Feststellung erniedrigt wird, wirkte in Verbindung mit der rhetorischen Monotonie einer nur geistreichen Dialektik niederdrückend und lähmend auf mich. Zugleich zerrieb er den Glauben an die Selbstkraft des Individuums ganz und machte mein Dasein abhängig von dem Spinnengewebe zufälliger Zweckmäßigkeiten. So legte sich eine beklemmende, unbewegliche Atmosphäre auch um meine innerste Seele, die mehr als vorher mit geheimer Feindseligkeit gegen allen äußeren Zwang erfüllt wurde.

      Wenn ich dann in der Nacht, die mich oft durch ein Rütteln oder einen undeutlichen Angstruf aus dem Schlummer riß, von meinem einsamen Lager aus das Auge auf die Finsternis um mich richtete, tauchte wohl ganz aus der Tiefe das Gesicht Fabers auf. Aber dann war kein Trotz und zorniger Stolz in ihm, sondern es lag die Verhärmtheit und Blässe über seinen Zügen, die jenes Grübeln über Menschengesichter bringt, das so lange dauert, bis es in machtlose Wehmut endet. So stand es eine Weile in der Nacht, leise geneigt und unbeweglich wie ein Bild tiefen Erdenkummers und zerging dann gleich einer weißen Wolke, nichts zurücklassend als ein Beben in der Nacht um mich und ein Gefühl der Reue in mir über meine Gemütsverhärtung einem Menschen gegenüber, von dessen verborgener Not mir diese geheimnisvolle Kunde geworden war. Immer nahm ich mir vor, diesem Zustand durch einen Versuch der Annäherung ein Ende zu machen, und immer wurde dieser löbliche Vorsatz von dem Staubgeriesel kleinlicher Tage verschüttet und erstickt.

      Gegen das Ende des März hin war mir Faber wieder einmal in der Nacht »erschienen«, und nach dem Verschwinden seines Bildes hatte ich aus der Tiefe der Finsternis ein schmerzliches Aufstöhnen zu hören vermeint. Ich war sogleich ganz wach, setzte mich auf und wartete auf die Wiederholung des Rufes. Es blieb still, das Beben in der Luft verging, und ich legte mich wieder hin, ganz verstört von dem Gedanken, daß der unglückliche Kollege vielleicht vor dem seelischen Zusammenbruch stehe, indessen ich trotz dieser wiederholten Warnungen in Gleichgültigkeit hinlebe. Ich schenkte am anderen Morgen einer Ausflucht meiner Trägheit, die mir zuflüsterte, Faber sei wohl nicht mehr als ein gewöhnliches Rauhbein, keinen Glauben, sondern warf mich nach Klassenschluß in andere Garderobe. Nach dem Mittagessen eröffnete mir jedoch Herr Christoph Dünnbier unter Überreichung der Verfügung die Festsetzung einer amtlichen Bezirkslehrerkonferenz für den Anfang des nächsten Monats. Gegenstand der Tagesordnung: ein Vortrag des Lehrers Franz Faber aus Wecknitz über Hilfsmittel bei der Erziehung der Kinder. So beschloß ich, meine Annäherung diesem Tage zu überlassen.

      Die Amtshandlung ging am 9. April, vormittag um 10 Uhr, in dem Klassenzimmer III b der Kreisstädtischen Schule vor sich. Das Gebäude war ein gewöhnlicher viereckiger Kasten, der sich nur von den vielen seinesgleichen dadurch auszeichnete, daß er ein wenig abseits gelaufen war, um sich hinter dem breiten Rücken einer unförmlichen Kirche zu verbergen, deren Größe durch nichts als eine Sammlung der Geschmacklosigkeiten von Jahrhunderten gebildet wurde. Die Schule aber stand in einiger Entfernung und bemühte sich, durch ein schüchternes Türmchen über der Front ihre willige Abhängigkeit vor dem heiligen Unding anzudeuten. Der Platz zwischen diesen ungleichen Nachbarn war kahl und baumlos, und man konnte wohl meinen, mitten im bescheidenen Verkehr der Kleinstadt hier fern vom Leben zu sein. Nie knirschte ein Wagen seine Spur in den Kies, selten überschritt ein Erwachsener das Plätzchen. Kinder aber stoben fluchtartig vorüber und erhoben, wenn sie glücklich entronnen waren, jenseits der niedrigen Mauer ein Geschrei der Freude.

      Heute wandelten die so leicht erblassenden Lichter des Vorfrühlings über den feuchten Sand, und es war ergötzlich anzusehen, wie sie neckisch und lose über die würdigen Rücken der Männer glitten, die in einem Schritt dem Aufgang zur Schule zustrebten, der einer gewissen Feierlichkeit nicht entbehrte. Von beiden Seiten, entweder aus dem Inneren der Stadt oder rechts von der Landstraße her fanden sich die Teilnehmer ein, stauten sich vor den Stufen wohl zu kleinen, flüchtigen