Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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und rief mit hoher, klagender Stimme. Aber es gelang mir zum größten Schmerze nicht, mich von der Gewalt, die mich hinauswiegte, loszumachen. Und oft war am Morgen mein Kissen noch naß von den Tränen, die ich im Traume vergossen hatte. Dann blieb ich immer solange liegen, bis die Nässe verschwunden war, denn um alles in der Welt hätte ich nicht über mein Traumerlebnis und meine geheimen Besorgnisse reden mögen. Aber mich, nach der niedrigen Decke unseres Kinderstübchens schauend, ruhte ich noch halb im Banne der seltsamen Nachtgesichte, lauschte ihren Tönen in mir nach und genoß mit geschlossenen Äugen den bunten Wandel ihrer Vorüberflucht oder sah meinen beiden Geschwistern, Peter und Resa, zu, die sich unter großem Geräusch zum Schulgange rüsteten. Während die beiden nach ihren vielverstreuten Kleidungsstücken umhertobten und bei den vielfältigen Zusammenstößen ein jedes in seiner Weise explodierten, Peter in etwas ingrimmiger Tätlichkeit. Resa in tränenvollen Beteuerungen ihrer Unschuld, die endlich in Injurien übergingen, fühlte ich kleiner, traumumfangener Nesthaken mich weit von ihnen entfernt und war nicht imstande zu begreifen, wie meine älteste Schwester so lieb zu den beiden Unholden sein konnte. Sie war schlank und blaß, ihr Gang fast lautlos und so ruhig, baß der überdicke, weißblonde Zopf auf ihrem Rücken sich kaum rührte. Nie verließ sie ein singender Friede, nie ihre immer stummfrohe Ruhe. Mit unbestechlicher Konsequenz versah sie die ihr übertragene mütterliche Hilfe und verstand es, dem unerträglichen Wortschwall Resas sowohl wie den tätlichen Insulten Peters endlich einen Dämpfer aufzusetzen, ohne mit dem unendlich gefürchteten elterlichen Eingreifen zu drohen. Einst aber, als Resa von einem unvermuteten Stoß ihres Erbfeindes Peter zwischen zwei Stühlen so zur Erde geschlagen war, daß ihre Stirn blutete, wandte sie sich, noch blasser als sonst, nach der Tür, um wirklich den Vater herbeizurufen. Da entfuhr meinem Bruder ein schleckvoller Fluch. Als Anna dies schlimme Wort gehört hatte, stand sie einen Augenblick wie gelähmt, ihre blauen Augen kummervoll auf den Missetäter geheftet, der immer tiefer in den Winkel zwischen Bett und Wand kroch. Dann sank sie auf einen Stuhl, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und stotterte unter Schluchzen: Ach, Peter, jetzt wird dich Gott strafen. In diesem Moment sah ich von meinem Spiel auf und bemerkte, daß mein Bruder kohlschwarzes Haar und unbewegliche, dunkelglühende Äugen habe. Weil ich das früher an ihm noch nicht bemerkt hatte, glaubte ich, das sei die Strafe für seine Todsünde, und hielt mich seit dieser Zeit aus verborgener Furcht von ihm noch ferner. Auch an dem Morgen, der mir eben in der Seele steht, nach einer Nacht, in der ich vom Traum wieder durch rätselvolle Weiten geführt worden war, erhob ich mein Äuge aus kindlich wichtigem Sinnen und sah, wie meine Geschwister die Tür stürmten. Resa war, ihre Tasche schwenkend, schon hinaus, Peter beugte sich noch einmal in die Stube herein und blies aus Leibeskräften auf mich zu, als habe er die Absicht, mich mit seinem Atem von der Bettkante herunterzuwehen. Seine Augen waren in der Anstrengung noch größer und starrer; sein voller, aufgetriebener Mund, die ungewöhnliche Rundung seiner Wangen, die leidenschaftliche Verzerrung des ganzen Gesichts flößten mir kleinem Menschen doch so viel Furcht ein, daß ich vorsichtshalber unter meine Decke kroch. Als ich mich wieder hervorwagte, klang Peters Lachen schon von der Stiege her, und Anna stand vor dem kleinen Spiegel. Sie hatte ihre schweren, blonden Zöpfe heraufgenommen und legte sie versuchend bald so oder so über den Scheitel. Durch den winzigen Scherben mußte sie wohl meine Augen gesehen haben, die mit stiller, ernster Aufmerksamkeit all ihren Bewegungen folgten, denn plötzlich warf sie ihre reichen Haare wieder zurück und wendete sich mit feinem Lachen um.

      »Na, was siehst du denn so eigen auf mich, Franzel?« fragte sie mich unter glühendem Erröten.

      »Wenn du die Haare so hast wie vorhin, kannst du da auch eine Königin werden?« fragte ich wieder.

      Da stürzte sie auf mich zu und küßte stürmisch mein ganzes Gesicht, indem sie mich immerfort dummes Franzel nannte. Das gefiel mir nicht lange, und ich wollte aufstehen. Während sie aber sonst beim Anziehen mit mir sehr übermütig war und mich oft unversehens in die Luft schwang und herumtanzte, klagte sie diesmal über Schmerzen in der Brust, als sie mich auf den Stuhl hob. Ich aber achtete nicht darauf, daß sie dasaß, die Hände auf den Schoß faltete und schwer nach Atem riß, sondern schlug mich schon wieder geheim mit Bedenken, was werden solle, wenn der Wind einmal unser Haus einstieß.

      »Kann Peter auch Wind blasen?« fragte ich.

      »O ja«, antwortete sie.

      »Solchen Wind, wie er in den Bäumen schläft und über unser Haus geht?« drang ich wieder in sie.

      »Nein, solchen nicht«, gab sie mühsam zur Antwort.

      »Aber der Luftwind kann ein Haus einschmeißen?« fragte ich weiter.

      »Freilich«, antwortete sie leise.

      »Und den Himmel auch und die Sterne auslöschen?« So belästigte ich sie in einem fort.

      Anna legte endlich die Hand auf meinen Kopf. Da fühlte ich, wie sie leise zitterte, und ich hörte auf, von dem Winde zu sprechen, damit sie sich nicht noch mehr ängste. Dann gingen wir in den Garten an Murr vorüber, der vor seiner Hütte saß und freudig den Schwanz im Grase rührte. Sonst mußte er »Schön« vor uns machen und das Pfötchen geben. Heute aber wandelten wir an ihm vorbei, und er hörte auf zu wedeln, hielt gedankenvoll den Kopf schief und sah uns ernst an.

      Es war ein ganz stiller, weißleuchtender Maimorgen, die Bäume ragten viel höher in den Himmel als sonst, dann und wann fiel eine Blüte aus den Kronen in das Gras herunter und lag dann im Grün, als sei sie aus der Erde gewachsen. Ich fragte, ob die andern Blumen auch aus dem Himmel kommen, und meine Schwester sagte ja, das geschehe in der Nacht, wenn alle Menschen schlafen. Sie fallen von dort her zu uns, wo die Sterne blühen. Deswegen sehen die meisten auch aus wie Sterne, und manche sind weiß und gelb wie diese. Die Kinder und alle Menschen stammen auch aus dem Himmel und dürfen dahin zurückfliegen, wenn sie müde geworden sind auf der Erde. Dann wandeln sie droben zwischen den Sternen, wie sie hier unten an den Blumen hingegangen sind.

      Wir spielten an der rechten Langseite des Gartens auf und nieder, wo eine Reihe Stachelbeersträucher standen, unter deren Blättern schon kleine, grüne Beerchen hingen. Denn an Sebalds hohen Bretterzaun wagte ich mich nur ganz selten, weil wir uns vor dem Manne fürchteten, den noch niemand gesehen hatte. Es ging das Gerücht unter uns Kindern, es sei ein mißgestalteter Zwerg, der immer mit einer scharfen Hacke hinter dem Zaune auf uns lauere. Wir hörten ihn manchmal unter bösem Murmeln Steine an die Bretter werfen oder mitten in unser Singen und Spielen mit schriller Stimme schimpfen. Deswegen zog ich meine Schwester auch an diesem Morgen zurück, wenn sie sich allzunahe an den Haselstrauch heranwagte, der in der Ecke nach Sebalds Garten breit und ungestört wucherte. Indessen stand mein Mund nicht still. Aus den großen, blauen Augen, mit denen Anna meinem Heraufschauen immer voll stiller Güte begegnete, schöpfte ich einen Mut zu Bekenntnissen aus dem Innersten der Seele, der mein Herz beklemmte und doch antrieb, sich immer aufs neue zu offenbaren.

      »Nicht wahr,« fragte ich meine Schwester weiter, »der Wind trägt die Leute in den Himmel?«

      »Nein, das tun die Engel«, sprach sie. »Die sendet Gott jedesmal, wenn ein Mensch auf Erden im Tod liegt«, antwortete sie und stand still und sah über sich, wo im hellen Blau eben ein paar weiße Wölkchen schwammen. »Sieh dort, so weiß sind ihre Kleider, und so unhörbar wie die Wolken nahen die Engel den Menschen und nehmen sie mit sich.«

      Lange schauten wir den glänzenden Wolken zu, so lange, bis sie im Lichte zergingen. Mir war recht ängstlich zu Mute, daß die Engel, die die Leute von der Erde holen, so nahe über uns flogen, deswegen atmete ich erleichtert auf, als sie verschwunden waren.

      »Aber den Sebald, der immer mit der Hacke hinter dem Zaune steht, den holen die Engel nicht, wenn er stirbt,« sagte ich nach einigem Sinnen, »den graben die Männer in die Erde,« fragte ich weiter.

      Aber Anna gab mir darauf keine Antwort, sondern fuhr mir nur mit zitternder Hand wieder über die Haare.

      Um die Stachelbeersträucher wuchsen viele Blumen, besonders goldgelbe, deren Blütenblätter schön regelmäßig um einen noch satter gefärbten Knopf in der Mitte wie die Speichen eines winzigen Rades standen. Wir nannten sie Spinnrädchen und liebten sie mehr als die andern Blumen dieser Zeit. Anna sagte plötzlich, sie sei müde und setzte sich. Ich war damit einverstanden, weil ich glaubte, sie wolle