Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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den Sarg in der Grube zu blicken, als halte es die ganze Versammlung für gar nicht so unmöglich, daß es der Toten einfallen könne, den Deckel zu sprengen und kraft ihrer geheimnisvollen Macht mit den mageren Händen am Grabesrand heraufzuklimmen und unter Hohngelächter alle davonzutreiben. Sie lag ja nicht ergeben wie andere da unten, sondern zu allem bereit, mit lauernd-weiten Augen, das Kreuz wie einen Hammer in der gefausteten Hand, hockte sie gleich einem argwöhnischen Wächter in ihrer Erdnische und verfolgte alles mit unbestechlich bitteren Augen, was oben im Lichte vorging.

      Mein Vater hat während der Zeremonie dagestanden wie ein Bild aus Stein: aufrecht, tränenlos, eine finstere Blässe im Antlitz, selbst ohne jenes leise Vibrieren des Schmerzes, das auch sonst starke Menschen im Unglück durchlauft. Am Ende soll er drei große Schaufeln Erde auf den Sarg seiner Mutter mehr geworfen als geschüttet haben. Dann wendete er sich schroff ab und schritt einsam nach Hause.

      Diesem und jenem aus dem Grabgeleit, der sich verstohlen nach meinem Vater auf dem Heimweg umschaute, soll er ganz verwandelt vorgekommen sein, als ob man seine Jugend verscharrt habe. Aufrecht, düster und ein wenig spöttisch, gleich seiner Mutter, sei er für sich hingegangen, mit langen, unbeirrten Schritten. Durch den Tod werden nahe Menschen erst in uns geboren. Die wundergläubigen Augen des Volkes sahen nachher in mancher schwarzen Wolke, die still und düster durch den Mondschein über unserem Dach hinwandelte, das Gespenst meiner gestorbenen Ahne, das wohl auch unbeweglich da droben stehen blieb, bis es beim Geläut der Morgenglocke brausend zerstob.

      Erst viel später, da meine Seele schon unrettbar in dem Strom eines schweren Schicksals untergetaucht war, erfuhr ich von dem Spuk, auf dessen Einfluß man allgemein die Fügungen zurückführte, von denen unsere Familie heimgesucht wurde. Aber da kochte mir der Kopf noch so toll, daß ich nicht Zeit fand, mich nach meiner Ahne in den Wolken umzusehen. Nur jetzt, da die Kette, an die ich geschnürt bin, von Jahr zu Jahr kürzer wurde, so daß ich mit meinen Füßen nur um meine Füße laufen kann, erliege ich an manchen drückenden Abenden dem Wahn, die harte Alte fahre über dem Rücken der Feistelberge langsam durch die Luft und drohe mit den Augen zu meinem Fenster herüber. Gerade dort, durch den Sattel kommt sie dann.«

      Faber wandte den Kopf eine Weile nach dem Fenster hin, als wolle er prüfen, ob das Gesicht, von dem er gesprochen, ihn eben wieder schrecke, ruckte aber jäh wieder herum und brach in ein spöttisches Gelächter aus. Noch ehe es verklungen war, wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Er rief barsch sein »Herein« und sprang auf, als wollte er dem Kommenden entgegengehen. Als aber Liese langsam und umständlich, mit Lampe, Tischtuch und noch vielem anderen beladen, unter schüchternem Gruß zu uns hereintrat, hielt er mitten im Schreiten inne und maß sie mit einem langen Blick. Dann wandelte er weiter an den verlaufenen Stühlen hin, an der Kleiderkiste vorüber, bis in die Nähe der Fenster, immer das Auge brütend gesenkt und die Hände auf dem Rücken. Liese kam und ging indessen lautlos ein und aus. Sie trug ein buntgeblümtes Kattunfähnchen, eine weiße, umkrauste Schürze und litt augenscheinlich unter meiner Gegenwart und der bitteren Insichgekehrtheit Fabers. Einigemal huschte ihr braunes, übergroßes Auge zu ihm hin. und weil sie sich von mir beobachtet fühlte, lächelte sie jedesmal schwach hinterher, um mich irrezuführen.

      »Es ist gedeckt«, sagte sie endlich leise und trat vom Tisch zurück, gegen die Tür hin.

      »Schön,« antwortete Faber und fuhr aus seinem Nachsinnen herauf, »und nun gehen Sie nach Hause.«

      »Erst werde ich aber doch das Geschirr wieder mitnehmen müssen.«

      »Ja, richtig. Natürlich!«

      »Und dann will ich auch warten, weil doch vielleicht noch dies und das zu holen ist.«

      »Liese!« sprach Faber jetzt gedehnt und ironisch betont. Dabei sah er sie so scharf an, daß das Mädchen ganz verwirrt wurde.

      »Nun ja.« antwortete sie, jäh errötend, »und dann kommt doch Schröfel noch um achte.«

      »Er soll morgen noch einmal nachfragen. Es wird sich ja zeigen.«

      Liese hatte während dieses Gesprächs die verirrten Stühle geordnet und bückte sich eben nach der Kleiderkiste. Bei den letzten Worten Fabers schrak sie herum und stotterte erbleichend:

      »Ich sollte ihn aber doch abbestellen.«

      »Nein, es kann sich doch wohl noch ändern«, antwortete Faber gezwungen – leicht, ihren plötzlich ratlos gewordenen Blicken ausweichend.

      Einen Augenblick stand das Mädchen betroffen da. Dann sagte sie dumpf: »Nu da«, und ging hinaus. Ihre abfallenden zierlichen Schultern waren noch hängender, das Köpfchen auf dem schmalen Hals tief geneigt, das ganze krankhaft feine Figürchen eingesunken. Zögernd knarrte die Tür ein; unentschlossen, dann und wann aussetzend, hörten wir ihren leisen Schritt auf der Stiege.

      Wir sahen schon am Tisch, und Faber lauschte mit dem Ausdruck der Trauer ihrem verhuschenden Gange. Plötzlich riß er sich zurück und sagte:

      »Ja, das nutzt eben nichts!«

      Dabei zuckte er leidenschaftlich die Achseln und atmete tiefer aus.

      Weil ich ahnte, daß zwischen den beiden eine tiefere, feinere Unstimmigkeit herrschte, als die gelegentliche Mißhelligkeit zwischen Herr und Dienstbote, hütete ich mich, mit einem Wort daran zu rühren, sondern kam, ein klein wenig innerlich beklemmt, der Aufforderung Fabers, tüchtig zuzulangen, nach. Denn ich war gewiß, die nächsten Stunden würden auch über diese Angelegenheit Licht verbleiten. Das behagliche Gespräch, wie ich es beim Mahle liebe, war aber mit meinem Gegenüber nicht in Gang zu bringen. Er begnügte sich mit halben Antworten und hantierte dann wieder leidenschaftlich mit dem Eßgerät, stumm und eilig, wie es die Art Einsamer ist.

      »Dein Vater übernahm nach dem Tode seiner Mutter das Anwesen?« fragte ich darauf, denn ich hoffte, Faber so wieder in Bewegung zu setzen.

      »Anwesen. Na ja. Es war ein einstöckiges, holzgedecktes Häuschen, eng und verwinkelt, das ein wenig in die stille Wiesenstraße hineinsprang.«

      »Von seinem Bruder hat er auch damals nichts erfahren?«

      »Nichts. Das Gericht erließ, wie das in den Fällen üblich ist, eine Aufforderung in allen Zeitungen an ihn, sich zu dem Erbe zu melden. Ohne jeden Erfolg. Es war wenig zu holen, und ihm lag wohl daran, verborgen zu bleiben.

      »Dein Vater blieb lange ledig?«

      »Ja, aber wie kommst du zu der Ansicht?«

      »Nun, ehe seine Seele sich mit der toten Mutter ganz auseinandergesetzt hatte, mußte wohl eine lange Zeit vergehen.«

      Faber sah mich verlorenen Auges lange an und antwortete dumpf:

      »Hast recht, hast ganz recht. Vielleicht war es ihre Absicht, meine Geschwister und mich überhaupt zu hintertreiben. Es sieht wirklich fast aus, als sei ich unberechtigter Weise auf der Welt.«

      Bei diesen Worten nickte er schwer mit dem Kopfe, indeß er hüstelnd Brotkrümchen auf dem Tischtuch zusammenlas.

      »Aber Faber!«

      »Nein, nein«, antwortete er heftig auf meine Mahnung. »Muß eine Mutter, die im Leben vollständig Schiffbruch gelitten hat, nicht sehnsüchtig wünschen, daß ihren Kindern ein gleiches Los erspart bleibe, und kann der Mensch anders vor der Qual des Lebens bewahrt werden, als daß man seine Geburt verhindert? So ist wohl der Schatten der Toten immer drohend mit meinem Vater aus- und eingegangen und hat an seinem Bett gesessen und sich über seine arbeitenden Hände gebeugt. Es sind gewiß schlimme, finstere Jahre für ihn gewesen. Mit seinem Handwerk ging es auch nicht vorwärts. Oft waren Pfennige seine ganze Barschaft. Er hat mir manchmal davon erzählt. Aber zuletzt – zuletzt – es kann nicht anders gewesen sein – die toten Menschen haben eine größere Kraft über uns als die lebendigen; ihre Liebe ist Unerbittlichkeit; ihr Mahnen Drohen; ihr Ernst hat nur Peitschen, und ihre Enttäuschung über uns wird zur Verzweiflung des Herzens. Ob wir zurückweichen vor ihnen, ob wir ihren blassen Spuren folgen: es ist gleich, wir verfallen immer tiefer jenem unwandelbaren Erstarren, aus dem heraus die Entschlafenen schrecken oder anziehen. Und ehe mein Vater von seiner toten Mutter ganz ausgesogen war, stellte er in der Notwehr