»Lacht er'n schon etwa?« fragte sie endlich.
»Ach, freilich lacht er schon, und wie«, antwortete Kathe und stand und kämpfte mit sich. Dann wurde sie übermannt, warf sich auf die Knie an das Bett, nahm den Kopf Maries in die Hände und bedeckte das blasse Gesicht mit heißen Küssen.
Als das Mädchen von ihr gelassen hatte und wieder an dem Türpfosten lehnte, fragte die Kranke gramvoll: »Kathe? ...«, aber es würgte sie, und die Worte konnten nicht über die Lippen. Verzweifelt schaute sie zur Decke.
»Nee, nee«, sagte sie dann, sich fassend, »ich nehm' dir's nich üvel. Gell, es is a scheener Tag?«
»Wie meenst'n das?«
Das Mädchen blickte bekümmert auf Marie. Diese sah sie noch einmal lange an und nickte unter Tränen. Da wurde Kathe rot und weinte, weil die Kranke die Freude ihres Herzens erkannt hatte.
»Gell, es is schlecht vo mir?« stotterte sie.
Marie langte aus dem Bett, drückte ihre Hand und entließ sie mit den Augen. Ehe sich die Tür hinter ihr schließen konnte, bat sie noch, man möge den Eingang zur Schlafkammer angelweit offenlassen und das Körblein mit dem Kinde auf die Ofenbank setzen, wo sie es vom Bett aus sehen könnte. Das Mädchen tat alles und nahm sich unter ehrlichem Kummer über ihre Sündhaftigkeit vor, nichts mehr von ihrer Liebe merken zu lassen, sondern sie zu unterdrücken.
Marie aber lag in ihrem Bett und erkannte, wie einsam sie in ihrem Unglück sei. Es ward ihr schwarz vor den Augen, und wenn sie zu sich kam, suchte ihr erster klarer Blick immer den kleinen Korb. Dann nahm sie sich vor, stark zu sein, um sich ihrem Kinde zu erhalten, und aß tapfer und schlief, tat alles, was die Hebamme angeordnet hatte.
Am zweiten Tage klang Schellengeläut in den Hof. Kathe trat ans Fenster, wischte den Schweiß von den Scheiben und sah hinaus.
Jesus Maria! Im Schlitten saß ihr Bruder, neben ihm der Gendarm, das Gewehr in den Händen. Der Lahme, die Unterlippe eingekniffen, blaß, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen starr hin, die Hände gefesselt. Ein zweiter Schlitten folgte mit Geklingel. Eine Anzahl fein gekleideter Männer stiegen daraus. Voran ein Geduckter, ein einziges Glas in das zuckende Auge geklemmt. Kathe sank auf die Bank, riß sich aber im nächsten Augenblick auf und schloß die Tür zur Schlafkammer, die schwachen Worte Maries überhörend. Dann lief sie einigemal in der Stube auf und nieder. Als Schritte in die Hausflur kamen, kauerte sie sich aufs Geratewohl auf die Bank und drückte sich an den Seegerkasten. Gleich darauf traten die Herren schon ein... Der hastig Fahrende voran. Hinter ihm ein Hinkender mit einem gelben, ausgetrockneten Gesicht, der über die angelaufene Brille die Augen prüfend durch den Raum gleiten ließ und beim Anblick des großen Tisches befriedigt nickte und mit seinem großen blauen Bogen gleich daran Platz nahm. Während der Amtsvorsteher von Erlengrund, Major Hoffmann, und ein Mann mit einem zweiteiligen langen Barte eintraten, hatte der Geduckte, der offenbar der Oberste von allen war, den Raum gemustert und sagte zu dem weißbärtigen Herrn:
»Macht einen guten Eindruck, was, Herr Sanitätsrat?«
»Sehr propper, vollkommen einverstanden, Herr Staatsanwalt«, erwiderte dieser mit tiefer dienerischer Verbeugung.
Der Hinkende am Tische aber entgegnete:
»Eine loyale Wohnung, durchaus loyal«, und tauchte dann verlegen ins Tintenfaß, weil ihn der Staatsanwalt deswegen fest ansah.
»Steindorf, den 5. Dezember 1893«, sprach er dann eintönig und ließ die Feder übers Papier fliegen.
»Ach was, Denzel!« unterbrach ihn der Staatsanwalt, drehte sich um und sah das verängstigte Mädchen am Seegerkasten.
»Wer sind Sie?« fragte er milde in das verzweifelte Gesicht Kathes, die glaubte, man werde sie einsperren, und über die unvermutete Freundlichkeit so glücklich war, daß sie auf die Antwort vergaß und unter Tränen lachte. Herr Hoffmann gab an ihrer Statt Bescheid, und dann entstand ein erregtes Gespräch unter den Männern, das in abgebrochenen Sätzen, mitunter im Flüstertone geführt wurde und von dem Staatsanwalt mit den Worten geschlossen wurde:
»Also, bitte, meine Herren!«
Dann eilten alle hinaus. Sie hörte die Leiter in den Brunnen schüttern, entrüstete Ausrufe, die Schuppentür knarren; die schwachen Hilferufe Maries. Alles war ganz weit fort von ihr; sie vermochte sich nicht zu rühren, alles flog um sie. Wie lange es dauerte, wußte sie nicht. Nun kamen alle wieder herein. Der Sanitätsrat im eifrigen Gespräch mit dem Staatsanwalt.
»Bei der vorgeschrittenen Verwesung«, sagte er, »läßt sich leider nichts anderes konstatieren. Sechs Wochen, wie gesagt.«
Und in der Mitte der Stube hielt er eine lange »Rede«, wobei er sich den Bart strich, während der Hinkende eifrig am Tisch alles niederschrieb. Auch der Amtsvorsteher wurde gefragt. Dann war es ihr, als schliefe sie ein. Es ging noch allerhand um sie vor, aber sie begriff keine Gebärde, kein Wort mehr. Einmal glaubte sie, gewaltsam an den Augen reißend, ihren Bruder vor dem Tisch stehen zu sehen und wollte schreien, vermochte es aber nicht. Sie saß in einem lethargischen Zustande, wie wir im Schlaf einen grausen Traum erleben und nicht genau wissen, ob wir wach seien.
Da riß man sie am Arme. Sie kam zu einer krankhaft scharfen Besinnung und erkannte in den Gesichtern aller, die sie umringten, eine drohende Entschlossenheit.
»Wo ist Ihre Schwester?« fragte der Staatsanwalt verdutzt über den Ausdruck der Feindseligkeit in ihrem Gesichte.
»Herr Staatsmann oder wie Se heeßen«, antwortete sie fest, »da drinne. Aber gehn Sie nich nei. Die sterbt, ich kann Ihn sagen, die sterbt.«
Drohend vertrat sie ihm den Weg in die Schlafkammer.
Man drängte sie zur Seite. Aber entschlossen, zur Hilfe Maries das äußerste zu wagen, folgte sie den Hineinschreitenden auf dem Fuße.
Von den polternden Schritten war Marie aufgewacht. Sie öffnete die Augen unnatürlich weit und versuchte zu lächeln.
Man fragte sie viel.
Ihr Gesicht wurde starrer, blasser. Die Hände auf dem Bett schlössen sich. Ihr Mund schwieg.
Da kniff sich der Staatsanwalt das Glas fester ins Auge, beugte sich nahe an ihr Ohr und fragte ganz laut und langsam:
»Haben Sie mit dem Schuster Klose in einem unerlaubten Verhältnis gestanden?«
Die Kranke rührte sich nicht. Endlich, lange danach, stöhnte sie fast unhörbar: »Dr Schuster... d... e...r Schus...«, ihre Augensterne hingen schreckhaft in den Höhlen. Dann sanken die langen Wimpern langsam darüber hin, das Elend barmherzig bedeckend. Denzel strich sich mit zitternder Hand durch den Bart.
Der Amtsvorsteher schüttelte sich die Kopfschuppen vom Rockkragen und wandte sich bleichen Gesichts der Türe zu. Der Sanitätsrat bemühte sich um die Arme und erklärte, daß nichts zu machen sei. Die Frau habe aus Schwäche und wegen Blutverlustes einen tiefen Ohnmachtsanfall; Gefahr für ihr Leben sei indes nicht »vorliegend«.
Darauf traten alle wieder über die Schwelle in die Stube, und der Staatsanwalt rief Kathe an den Tisch.
»Wissen Sie, ob Ihre Schwägerin in verbotenem Verkehr mit dem Schuhmacher August Klose aus Steindorf gestanden hat?« fragte er sie, ein beschmutztes Papier auf dem Tische entfaltend und vorsichtig die unzähligen Knitter desselben niederstreichend.
Kathe hatte sich indessen von ihrem Schrecken erholt und verneinte.
Ob sie die Schrift des Schuhmachers zufällig kenne, drang der Staatsanwalt weiter in sie, und als sie erwiderte, daß ihr außer einer Rechnung nichts von seiner Hand zu Gesicht gekommen sei, schob er ihr den verdrückten Fetzen hin und forderte sie auf zu lesen, was auf diesem Papier stehe, das man in der Westentasche des Toten gefunden habe.
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