Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
Скачать книгу
Inhaltsverzeichnis

      Während sich alles dieses ereignete, nahm der Prozeß gegen den Klumpen seinen Fortgang. Der Staatsanwalt hatte genügend Momente gefunden, gegen ihn die Untersuchung wegen Mordes, begangen an dem Schuster August Klose, einzuleiten. Eine Menge Vernehmungen hatten schon stattgefunden. Die ganze Angelegenheit war durch sie eher verwirrt als geklärt worden. Nichts wies auf ein Verhältnis, das zwischen Marie und dem unglücklichen Schuhmacher bestanden hatte und nach der Ansicht des Staatsanwaltes die Veranlassung zu der verbrecherischen Tat des Lahmen gewesen sein mußte. Der Angeklagte hatte sich von seiner Niedergeschlagenheit erholt und benahm sich bei seinen häufigen Vernehmungen sehr verschieden. Bald verharrte er in einem Schweigen, das dem Hohne gleichkam, bald gab er lang und breit eine Geschichte zum besten, die offenbar aus Wahrem und Falschem gemischt war. Immer aber zeigte er sich bereit, hundert heilige Eide zu schwören, dem Schuster kein Haar gekrümmt zu haben. Einmal versuchte der Staatsanwalt die Tat des Klumpen so zu erklären, daß der Schuster als Zeuge des Grenzfrevels beseitigt worden sei. Je weiter er aber diese Annahme durchführte, zu um so größeren Widersprüchen mit den festgestellten Tatsachen gelangte man, und es erwiesen sich alle bisherigen Feststellungen als sehr problematisch, wenn man die Behandlung des Rechtsfalles nach dieser Seite hin vorgenommen hätte. Der Untersuchungsrichter überzeugte sich endlich, was er übrigens von Anfang an für wahrscheinlich gehalten hatte, daß der Vater dieser Kombination, ein junger Assessor, denn doch mehr Eitelkeit als juristisches Denken besaß, um in einem solchen Wirrsal von Möglichkeiten gleich auf der richtigen Fährte anzuschlagen, sich gründlich geirrt hatte. So kam es, daß man nach einem Umschweif von Wochen mit aller Entschiedenheit sich wieder auf das erste Geleise einfuhr und die sträflichen Beziehungen des jungen Weibes zu dem verlumpten Schuster als Drehpunkt des ganzen Dramas ansah. Dazu kamen noch die schwankenden Aussagen des Angeklagten darüber. Nicht als ob er sein Weib bezichtigt hätte, nein, er erging sich nur in Verwünschungen gegen seinen Freund, den Schuster, und erzählte dann Episoden, die auf einen tiefen ehelichen Zwiespalt schließen ließen. Aus dieser Position war der Lahme durch keine List herauszubringen.

      Die Hauptbelastungszeugin Marie konnte wegen ihres Zustandes nicht verhört werden.

      Endlich berichtete der Amtsvorsteher Hoffmann, »daß ihrer Vernehmung keinerlei sanitäre Bedenken mehr im Wege ständen«, und die Personen, welche Kathe schon bekannt waren, traten eines Tages in die Stube des einsamen Hauses am Freibusch. Der Hastige, mit dem Luchsauge hinter dem Monokel, fragte sie nach Marie, während der Hinkende die Akten auf den Tisch legte und der Major Hoffmann die hölzernen Rehköpfchen an der Wand besah.

      Kathe antwortete befangen, ihre Schwägerin sei zwar gesünder, liege aber noch im Bett drin in der Schlafkammer. Man öffnete die Tür, überzeugte sich, daß der Raum ungemein eng sei, und stellte den Tisch und die Stühle im Wohnzimmer nahe am Eingang auf.

      Das alles ging in poltriger Hast vor sich.

      Marie richtete sich auf, sah sie still der Reihe nach an und nickte mit dem Kopfe.

      »Warum nicken Sie?« fragte der Staatsanwalt, hob sich seinen Stuhl in den Schlafraum und nahm Platz.

      »Weil ich mei Unglücke versteh'.«

      Dieses und alles andere sprach die Arme mit sicherer, fester Stimme.

      Die Amtshandlung begann mit den üblichen Fragen nach Name, Alter, Geburt, Bestrafung usw.

      »Sie wissen, was ein Eid ist!« sprach der Staatsanwalt.

      Sie lächelte geringschätzig und sagte dann:

      »Nischt!«

      Fassungslos sah der Frager den Amtsvorsteher an, der mit den Achseln zuckte, fuhr dann mit hartem Wort auf sie los, und als er auch damit das verächtliche Lächeln von diesem schönen, blassen Gesichte nicht vertreiben konnte, sprang er auf und redete in der Wohnstube gedämpft mit Kathe. Zurückgekehrt, lispelte er mit dem Amtsvorsteher. Die beiden Männer lehnten sich zurück und sahen Marie scharf und lange an.

      »Aber die Augen, die Augen sind mir zu gesammelt«, murmelte dann der Staatsanwalt zu Hoffmann, der zustimmend nickte.

      »Überhaupt das ganze Exterieur«, meinte der und strich sich bedeutsam den schwarzen Schnurrbart.

      Marie tat, als ob niemand anwesend sei, und saß mit gesenktem Kopfe da, ohne sich zu rühren.

      »Wie lange sind Sie mit Ihrem Mann verheiratet?«

      Der Staatsanwalt nahm das unterbrochene Verhör wieder auf, ohne sie zu vereidigen.

      »Gar nich.«

      »So lebten Sie in wilder Ehe?«

      »Ja, ja, eene wilde Ehe war's!«

      »Aber«, fiel der Amtsvorsteher hastig in ihre Antwort, »Sie sind doch nachweislich standesamtlich und kirchlich getraut.«

      Der Staatsanwalt berührte mit der Hand Hoffmanns Arm, zum Zeichen, daß er das Verhör leite. »Getraut«, begann Marie unter Kopfnicken leise, »nu ja, ja, ich ha'm g'traut. Dem wen'ger wie je'm, je'm. Wer traut, bindt de Menschen aneinander. A Verrücktes bindt een Vogel mit eem Steene zusammen. Seht, Ihr Mannsmer, das, was mr Gott genenn', kann das nich tun. Deswegen war ich nich verheiratet.«

      »Aber, Frau Exner...«

      »Ich heeß nich Exner un nich Marie, ich ha keen Namen mehr. Das is alls gewesen. Das liegt vr dr Tür wie dr Schnee, mit dem dr Wind spielt. Mei Leben, de größte Krankheit, die's hat, hab' ich überstanden, bin gesund un gestorben.«

      »Ich bitte Sie, Frau Exner, wir glauben alle...«

      »Ja, ich hab' auch gebitt; aber etze bitt ich nich mehr. Etze is mei Gesinne eene Säge und mei Zunge a Hammer. Ihr herza Mannsmer, wie de Knöchel eim Wirfelbecher, aso schmeißt's uns.«

      Der Staatsanwalt sah den Amtsvorsteher Hoffmann mit einem Blick an, der sagte, die scheint tatsächlich verrückt zu sein. Dann hob er sich vorbei in die Wohnstube. Als er wieder eintrat, folgte ihm Kathe mit dem Wechselbalg auf dem Arme und stellte sich auf einen Wink an das untere Ende des Bettes, in dem Marie lag.

      Kathe war verwirrt, überschüttete das Kind mit Liebkosungen und schob immer wieder den Gummipfropfen in seinen Mund, obwohl der kleine Unhold mit schrillem Schnurren dagegen protestierte.

      Herr Hoffmann beugte sich zum Staatsanwalt hin:

      »Ich begreife nicht, wo das hinaus soll.«

      Der putzte mit dem Taschentuch sein Augenglas und murmelte:

      »Ich geh' aufs Ganze.«

      Dann wandte er sich an die Kranke und gab seiner rauhen Stimme einen freundlich-eindringenden Klang.

      »Nun aber, Frau Exner, nehmen Sie Vernunft an. Dieses Kind ist also doch wohl der Ehe mit Ihrem Manne, Karl Exner, entsprossen?«

      Bei all den Vorgängen hatte Marie in ihrer Stellung verharrt. Nur beim Eintritt Kathes war ihr Kopf noch etwas tiefer auf die Brust gesunken. Die Augen unverwandt auf die Hände gerichtet, saß sie wie geistesabwesend. Auch die Frage des Staatsanwalts schien spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Sie rührte sich nicht. Nur der Zeigefinger ihrer linken Hand fuhr auf dem Rücken der rechten suchend über die hervorstehenden Sehnen.

      Dann nickte sie wie im Traume, und mit taumelnder Stimme fing sie an, eintönig zu reden:

      »Vernunft... o je, ihr Menschen! De Ziege hat's Horn un dr Mensch de Vernunft. Was aber hilft dr Ziege 's Gestöße, wenn se dr Fleescher an a Strick nimmt, un was nutzt'm Menscha de Vernunft, wenn's übern kömmt wie ein Schlachtmesser! – de Augen hat ma zum Flerrn, de Seele zum Verzweifeln.«

      Mit einem langen, seufzenden Atemzuge setzte sie aus und schwieg eine Weile, wie um Kraft zu sammeln.

      Der Staatsanwalt sah, daß der Wahn sie noch immer beherrsche, erinnerte sich, in einem Aufsätze irgendwo gelesen zu haben, es sei das beste, im Verkehr mit Irren einen Anfall abzuwarten, und beschloß, Marie gewähren zu lassen, um in dem folgenden lichten Augenblick die notwendige Frage über ihr Verhältnis