Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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mir zu sehen, und ich folgte ihr in einem Abstand von zwei oder drei Schlitten. Auf der Höhe des Berges, neben dem winzigen Kirchlein, machte sie endlich Halt und sank erschöpft auf die hölzerne Bank. Dort saß sie lange, sah nur in ihren Schoß und atmete abgerissen und schnell. Ich stand in eisigem, feindseligem Schweigen neben ihr und lichtete, um recht entfernt zu sein, meinen Blick über das schwach belichtete Feld gegen das Schneegebirge, das in der Weite wie ein graublauer Schleier hing.

      »Du gehst in einigen Tagen aus Heisterberg fort?« fragte Wally unvermittelt, ohne den Kopf zu heben, als spreche sie mit sich selber.

      »Vielleicht, ja«, antwortete ich.

      »Dann werden wir uns nicht mehr sehen«, sagte sie leiser.

      »Nein«, erwiderte ich hart.

      Sie neigte den Kopf noch tiefer, als habe sie einen Schlag erhalten und schwieg lange.

      Dann richtete sie sich auf, strich das Tuch in den Nacken und sah lange durch das Mondlicht auf etwas ganz Fernes. »Ich weiß alles, was du leidest«, fing sie nach einer Pause mit tiefer, stiller Stimme wieder zu sprechen an. »Ich wußte es schon an dem Tage, an dem ich dich das erstemal sah, auf der Straße aus dem Seminar, als du gingst wie gestoßen. – Und ich wäre gern gewesen wie das Mondlicht dort um den stummen, harten, schwarzen Berg. Aber du hast es mich nicht sein lassen, wie ich auch gebettelt habe darum ... da ist dann alles so gekommen.« – – Sie setzte aus und wartete. Aber ich brachte meine Lippen nicht auseinander. Es war, als presse mir eine Faust den Mund zu.

      Durch die Bäume kroch das Rauschen der Neiße über das Gras bis zu unsern Füßen.

      Wally wandte sich um und starrte, den Leib auf steife Arme gestützt, über den Abhang hinunter.

      »Mein Zweig geht in den Strudel«, sprach sie dann mit stierer Stimme. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich muß dennoch ...«

      »Was mußt du?« fragte ich.

      Doch sie hörte nicht auf mich, sondern redete abgebrochen, stotternd weiter: »Ich weiß nicht, was das ist ... ein Gutes ... ein Schlechtes ... ach, und wenn es keine Hilfe ist ... Menschen ... Menschen, was dann!?

      Wenig gerührt, ließ ich sie kämpfen. Da riß sie sich plötzlich aus dem Wirbel los, sprang entschlossen auf, knüpfte sich das Tuch fest und sprach demütig zu mir: »Verzeihe! Was ich von dir zu erbitten habe, ist dies: Gib mir noch einen einzigen Kuß, und wenn es dir möglich ist, lege das letzte Fünkchen Liebe hinein, dessen du für mich noch fähig bist, deinen besten Segen, deinen reinsten Willen. Sorge dich nicht, habe keine Reue. Aber wisse, ich werde es brauchen.«

      Und sie hielt mir ihr Gesicht hin. Ich sah, daß es totenblaß und eingefallen war, und es begann, heiß und sprengend in meiner Brust zu wogen. Doch ich würgte das Mitleid in mich hinein, weil der Gedanke kam, daß, in vielleicht wenigen Augenblicken schon, Kinzel dies Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedecken würde. Daher legte ich kühl und leicht meinen Mund auf ihre kalte Stirn.

      Wally stieß einen schwachen Schrei aus, als habe sie einen tödlichen Stich erhalten, taumelte zurück und ging stumm über den Berg hinunter.

      Drei Tage danach waren Kinzel und sie aus Heisterberg spurlos verschwunden.

      Nach einem Jahre tauchte der Kommis wieder auf. Verlottert und verludert. Das Mädchen blieb verschollen.«

      – – – – – – –

      Faber schwieg erschüttert und preßte das Gesicht in seine Hände. Nach einer Weile befreite er seine Augen wieder und blickte verloren zum Fenster hinaus, durch das die Frühe kalt und grau hereinsah. »Siehst du, Kastner,« begann er dann, »das ist das Ende der Kette, die mein Leben erwürgt. Ich habe Wally getötet, wenn sie gestorben ist, und in Schande gestoßen, wenn sie noch lebt. Und darum durfte ich nach dem reinen Herzen, nach Liese Plaschke, meine Hand nicht ausstrecken. Ich durfte nicht und wollte nicht, wollte nur an ihr gut machen, was ich an der andern verbrochen habe.

      Vielleicht, daß ich dadurch ein zweites Mal schuldig geworden bin, weil ich dies kindhafte Mädchen zu meiner Buße mißbraucht habe. Dann – ja – dann gibt es keine Rettung mehr für mich aus diesem grauen Wirrsal!!« –

      Faber schrie die letzten Worte fast wie einen Notruf aus. Sie klangen noch in der stillen Stube, da wich, wie von Geisterhänden gelöst, die Tür aus dem Schloß und schwang, langsam knarrend, in den Angeln weit auf, bis sie ans Bett anschlug.

      Auf der Schwelle kniete Liese, noch in der Stellung einer Lauschenden, die Arme weit ausgebreitet und das Gesicht bestürzt über ihre Bloßstellung. Sie hatte sicher, von Sorge und Neugier getrieben, die ganze Nacht vor der Tür auf dem Flur zugebracht und die Erzählung Fabers mit angehört. Aus seinen letzten verzweifelten Worten mußte sie die Überzeugung gewonnen haben, daß die Macht über das Schicksal meines Freundes in ihren Händen liege. Halbbewußt hatte sie dem Drang, sich zu opfern, nachgegeben und kauerte nun da wie ein Mensch, um den sich Gram und Freude streiten. Ich war von dem Sitz aufgesprungen, und auch Faber hatte sich ein wenig aufgereckt, erstaunt über den Einbruch des Mädchens, das jetzt zu zittern begann, als sie seine verstörten Züge gewahrte. Doch bald wich diese herzliche Angst von ihr. Sie faltete die Hände nach unten und senkte, einen Augenblick sinnend, den Kopf. Als sie ihn hob, war alle Beklemmung von ihr gewichen, strahlte ihr Gesicht im Glanz eines schmerzvollen Glückes, und immer mit den Blicken an meinem Freund hängend, flüsterte sie zu ihm herauf: »Herr, warten Sie bloß eine kleine Weile!«

      Dann huschte sie die Treppe hinunter und erschien bald darauf mit demselben Bündel, das sie vor acht Tagen in die Birken getragen hatte. Sie legte es vor den Füßen Fabers auf den Boden, kniete daneben und fing an, es eilig aufzubinden und darin herumzusuchen. Ein Paar Schuhe, eine Taille, ein Rock, Strümpfe, ein Tüchelchen und ein Stück vertrockneten Brotes wurden von ihren hastigen Händen über die Diele gestreut. Zu unterst lag ein kleines Päckchen in Papier, vielfältig mit einem roten Wollfaden verschnürt. Das reichte sie Faber herauf und sagte: »Lieber Herr, da nehmen Sie, was ich Ihnen wiedergeben muß. Das andere freilich werden Sie mir lassen müssen; das, was da liegt, und was ich in mir trage von Ihnen. Denn, daß ich anders seh'n und sinnen kann, anders lachen und geh'n, anders sein und Besseres tun kann, das alles, was Sie mir gegeben haben, gelt, mein Herr, das darf ich behalten?!«

      Sie sprach leise, vielfältig stockend, die Augen verschämt niedergeschlagen.

      Faber öffnete das Päckchen, und ein dürres Sträußchen Blumen, mit einem Faden Seide umschlungen, eine Schleife und ein trockener Tannenzweig kamen zum Vorschein.

      »Und was soll das?« fragte er.

      »Ach, mein Herr, das sein doch die Blumen und die Schleife, die Sie mir am Kommuniontage gegeben haben und das Zweigel aus'm Busche, wissen Sie, wo Sie mir den Packs getragen haben, weil ich nicht mehr fort konnte.«

      »Warum soll ich das nehmen?« sprach Faber.

      »Weil Sie mir genug gegeben haben und jetze fortgehen müssen von hier«, antwortete das Mädchen.

      »Liese, habe ich dir wehgetan?« fragte Faber ergriffen.

      Sie lenkte ihr Auge auf ihn, und unter glücklichen Tränen antwortete sie: »O ja, Herr, wie die Sonne dem Baume wehtut, wenn sie auf ihn scheint, daß er blühen muß vor lauter Schmerze, also haben Sie mir wehgetan. Aber jetze, jetze is Zeit, daß Sie fortgehn.«

      Sie schnürte eilig ihr Bündel, erhob sich und trat an Faber heran, dessen Gesicht in heiliger Blässe leuchtete.

      »Und wirst du nie denken, ich habe dich betrogen, Liese?« fragte er das Mädchen leise.

      Statt aller Antwort beugte sie sich und küßte seine Hand. Dann war sie verschwunden. Bald hörten wir ihre Schritte durch das Gras rauschen, wie wenn ein Vogel im Laube davonfliegt. – – – – – – – –

      Faber stand lange wie ein Erlöster und schwieg gleich einem Menschen, der aus bleiernem Schlafe zu lichtem Traume erwacht ist.

      »So sind Willmanns Worte doch wahr geworden, daß meine Liebe ins Sonnenhafte gedeihen soll«, sagte er dann und schüttelte voll Verwunderung