»Vielleicht, ja.« antwortete der Vater und trieb die Luft schnaubend durch die Nase, »hast recht, man hätte Zeit und sollte ein Ende machen.«
»Aber du hast doch früher auch manchmal erzählt«, setzte die Mutter unbeirrt fort, und ihre Worte klangen zaghaft und aufreizend zugleich.
Mit einem Schritt, der mehr einem Sprung glich, stand mein Vater vor ihr, sah bohrend auf sie nieder und schrie endlich gemartert: »Früher! Warum sagst du: Früher?«
»Mußt du dich etwa schämen vor diesem Worte?« fragte meine Mutter, und ich spürte, wie sie ihn vorsichtig weiterführen wollte. Denn nun klang leise sogar etwas wie Hohn in ihrer Stimme.
Der Vater stutzte, beugte sich nahe zu ihrem Gesicht und sagte stockend: »Du meinst, Weib, ich sollte doch noch meine Hände freimachen?«
»Warum nicht?« fragte sie und sah ihm furchtlos in die Augen, »jawohl, freimachen, dich und uns, reinwaschen, dich und uns.«
»Wie?« sprach mein Vater in schreckhaftem Staunen, »das sagst du? Hier, auf dem Flecke, wo deine Füße stehn, solltest du niederknien und beten, daß ich mich erhalt'. Dem Stein, der aus meiner Hand fliegt, muß ich nach, und dann gnade Gott uns allen. Ich kenn' mich besser! Das ist das eine. Und dann: Wenn ich dem Pack zuleide gehen will und dem treulosen Freunde, muß ich erst selber treulos werden, Pack sein, innerlich Pack sein. Solange ich lebe, will ich halten, was ich der Mutter in die kalte Hand gelobt habe, mich an keines Menschen Leben vergreifen und an keiner Macht, die über mir ist. Geh' ich daran zugrunde, so sterb' ich in Ehren.« Er trat weg und begann wieder umherzuwandeln. Während er hin- und widerging, verschwand seine Aufgerecktheit immer mehr, er sank ein und schüttelte murmelnd fortwährend das Haupt. Unvermutet blieb er vor mir stehen, maß mich mit den Augen, und sich halb zur Mutter wendend, sagte er feierlich: »Da, Mutter, mein Sohn ist auch noch einer! Und ruft es mich ab, ehe es hell um mich geworden ist, so wird er das Licht an meinem Grabe anstecken.«
Erschüttert, ohne zu wissen, was ich tue, bot ich meine Hand zum Versprechen. Aber er bewegte verneinend den Kopf und sagte: »Nein, keinen Knebel, um Gottes willen, keinen Knebel! Wenn du Ehre mitbekommen hast, dann wirst du aus eigener Kraft dich hüten, mein Grab zu besudeln.«
Er lehrte sich ab und ging mit den behutsamen Schritten, die er sich seit Monaten angewöhnt hatte, an seinen Platz zurück, rauchte sich die Pfeife an und sah vor sich nieder. Darauf kam ein kümmerliches Armenlächeln über sein Gesicht, das langsam in der Versunkenheit leeren Ernstes erlosch.
Mir war zumute, als habe sich mein Vater eben lebendig begraben. Ich schlug ein Buch auf und starrte auf die Buchstaben, maß mit den Augen die Ränder, die Schriftfläche, zählte die Zeilen und litt indessen an der Empfindung, von unsichtbaren Banden immer enger und enger zusammengeschnürt zu werden.
Da begann meine Mutter zu singen:
»Graus war die Nacht, und um die Giebel
der Försterwohnung heulte Sturm.
Der fromme Greis las in der Bibel,
und sieben schlug's am Kirchhofsturm.«
Leise, wie Vogelflügel über entblätternde Blüten streichen, sang sie; leise, wie die Hände einer Krankenpflegerin, waren die Töne des alten Liedes. Sie bewegte kaum die blassen Lippen beim Gesänge. Manchmal riß das Mitleid zuckend an ihrer Stimme, manchmal zitterte sie in angstvoller Liebe. So sang sie die dreizehn Strophen.
Und als der letzte Ton wie ein niedergleitendes Blatt sich in der Ecke verloren hatte, schlief der Schmerz in unseren offenen Wunden. Der tote Ernst war aus dem Gesicht des Vaters verschwunden, und eine weiche Aufgelöstheit hatte die scharfen Runzeln geglättet.
»Es ist elf«, sagte er milde und erhob sich. »Ich bin müde, und dein Singen hat den Schlaf gerufen. Gute Nacht, liebes Weib! Gute Nacht, mein Sohn!«
Mit stillen, gleichen Schlitten ging er von uns.
Weine Mutter sah ihm gedankenvoll nach.
»Hab' ich's recht gemacht, Franz?« fragte sie mich nach einer Weile.
Ich sah sie traurig an. Da verstand sie, was ich sagen wollte und sprach: »Freilich, du hast recht, besser war es, wenn er aufgesprungen wäre. Aber, das ist ja wohl vorbei.«
– – – – – – –
Als ich in meinem Stübchen angekommen war, lehnte ich mich zum Fenster hinaus und schaute zum Nachthimmel auf. Er war tief, fast schwarzblau. und je länger mein Blick auf ihm ruhte, desto mehr verdunkelte er sich. Stern um Stern sog er in seine bodenlose Tiefe, bis zuletzt nur ein einziges, winziges Flackerlichtlein in der unübersehbaren, finsteren Höhenwüste übrigblieb. Das stand nicht allzu fern über den Dächern der Häuser, die wie die Rücken riesiger, schwarzer Tiere anzusehen waren.
Mein Vater stirbt an seiner Mutter, sann ich; er ist schon so gut wie erloschen. Und als ich mein Äuge wieder zum Himmel wendete, war auch der letzte Stern von der Nacht ausgewischt. Da fiel es mir auf die Seele: Und ich werde um seinetwillen auch zugrunde gehen müssen.
In der Luft nahte ein Wuchten, wie der Schwung von großen, unsichtbaren Flügeln. Muß das so sein? fragte ich die finstere Höhe. Aber sie gab mir keine Antwort. Das Rauschen der Flügel droben war vorübergehuscht, und kein Laut rührte sich rundum, als der ferne Schritt des Wächters und das Knarren des eisernen Doppeladlers auf dem Wartturm. Niemand auf der ganzen Erde konnte mir sagen, ob das der Sinn des Lebens sei, daß Kinder um ihrer Eltern willen sterben müssen. War es nicht genug, daß ich aus Liebe zu meinem Vater einen Beruf auf mich genommen hatte, den ich nicht liebte? Sollte ich ihm nun auch die Sehnsucht nach meinem Gott opfern, bei dem alten, toten Glauben verharren und dadurch einem Leben mich unterwerfen, das nichts als ein langes Verwesen bedeutete?
Das Licht aus Willmanns Stube glomm ruhig und geborgen aus der Mauer, tröstlich und sanft. Da wurde ich von leidenschaftlicher Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden aus Kampf, Finsternis und Schmerz, die mein Leben waren, gefaßt und überlegte: Wenn ich mir ein Herz nähme, zu ihm ginge, meine Untreue eingestände, seine Vergebung erbäte und meine schweren Nöte ihm anvertraute, so würde er weder mit seiner Güte noch mit seiner Weisheit zurückhalten, und ich könnte noch einmal meines Daseins und meiner Hoffnung froh werden. Kaum hatte ich dies gesonnen, so sah ich das Licht aus der Tiefe des Zimmers heranschwanken, als sei der Greis durch meine Gedanken vom Tische aufgescheucht worden. Ich konnte deutlich die Lampe sehen und glaubte sogar den Kopf des Alten wahrzunehmen. Lange schwebte das Licht so am Fenster, und ich war ganz glücklich in dem Wahn, Willmann stehe dort und schaue nach mir her. Dann verschwand der Schein wieder tiefer ins Zimmer, stand eine Weile ruhig, wankte hin und her, erlosch scheinbar, tauchte auf, schwamm ans Fenster, schimmerte verlangend in die Nacht und sank in die Tiefe zurück, um nach einiger Zeit wieder wie ratlos umherzuwandeln. Selbst als ich mich ausgekleidet hatte und noch einmal zum Turme hinaufsah, gewahrte ich noch immer das Licht unruhig umherirren. Ich legte mich nieder und bemühte mich, meinen Gedanken eine andere Richtung zu geben, um den Greis nicht weiter zu stören.
– – – – – – –
Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen. Am anderen Morgen war er schon nicht mehr unter den Lebenden. In der späten Nacht, gegen die zwölfte Stunde, hatte der revidierende Wächter hinter den Willmannschen Fenstern einen grellen Feuerschein wahrgenommen. Da aber die Röte nicht ununterbrochen gegen die Scheiben stand, sondern zurückging, auflohte und wieder auf Augenblicke ganz versank, glaubte der biedere Mann, es handle sich um irgendeine der vielen Marotten des Greises, durch die er dem niederen Volke Heisterbergs ein unbegreifliches Wesen geworden war, betrachtete noch ein Weilchen das Spiel des Feuers hinter den kleinen Fenstern und ging mit Verwünschungen von dannen, als er den Greis droben ein durchdringendes, wieherndes Gelächter ausstoßen hörte. Auf dem Ringe zog er einen Kameraden aus einer Nische und erzählte ihm den Vorfall.