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Am Allerheiligentage schritt ich wartend den schmalen, felsigen Steig hin und hei, der, an der Sohle des Florianiberges dem Laufe der Neiße dicht angeschmiegt, über einen sanft gehobenen Wiesenstreifen den Ausblick nach der übereinandergetürmten Stadt freiläßt. Nach Norden zu sieht man einen Zipfel des Kirchhofes über den Abhang gleiten. Die Luft war ein einziges, silbriges Schimmern, kalt und köstlich. Die makellose, winterliche Blässe des Himmels spannte sich still über die Dächer und Türme von Heisterberg. Nur ein Beben schwebte fortwährend ganz schwach in der Höhe wie von eben verklungenem, eben anhebendem Geläut. In mir wurde es ein geruhiges Erwarten und doch auch ein leises, wiewohl verklärtes Zittern. Das Wasser zu meinen Füßen ging lautlos und glänzend über die Steine; die kahlen Zweige der Buchen, Erlen und Ahorne standen unbeweglich über mir und ließen aus tiefem Schlaf noch dann und wann ein vergessenes Blatt sinken, das sich behutsam auf den Wellen niederließ und wie ein rotes oder gelbes Schifflein davongetragen wurde. Ich dachte eben darüber nach, was es doch für einen Zweck habe, mein Mädchen mit törichten Befürchtungen zu betrüben, und daß es vielleicht das beste wäre, ich ließe die Grillen von dem Wasser auf Nimmerwiedersehen fortnehmen wie diese welken Blätter, da stand Wally unvermutet neben mir Versunkenem. Ihr Gesicht war von dem Lauf über den steilen Abhang noch blasser als sonst, die schwarzblauen Augen glühten tiefer, und ihr heißer Atem traf meine Wangen wie reife Sommerluft. Da sah auch schon das geheime Bangen um sie wieder fest in mir, und ich dachte nicht mehr daran, es ungesehen fortschwimmen zu lassen. Ehrliche Verliebte find die ungeschicktesten Heuchler, und es dauerte nicht lange, so hatte es Wally heraus, daß mich etwas bedrücke. Aber ich zögerte, mein Geheimnis mir nichts dir nichts vor ihren ungeduldigen Augen auszubreiten, sondern redete, sie und mich zu versuchen, spielend daran herum, als sei es die ausbündigste Torheit der Welt und zugleich ein schlimmes Verhängnis. Endlich erklärte Wally sehr entschieden, es wissen zu müssen, und weil ich mich immer noch neckend weigerte, kamen wir überein, eine Art Gottesurteil anzustellen. Zwei gleich lange Zweige sollten nebeneinander auf das Wasser gesetzt werden. Wessen Rütlein zuerst an dem kleinen Strudel angelangt sein würde, nach dem mußte es gehen, und der andere durfte kein Wort dawider sagen. Ich wählte die Zweige von der Erle, dem zauberkräftigsten unter den Laubbäumen, und Wally umwand den ihren mit einem roten Faden aus ihrem Hutbande. Die Hände zitterten ihr kaum merklich dabei, und ihr Busen stieg und sank beklommen. Auf herausstehenden Steinen balanzierte ich ein Stück in den Fluß hinein und richtete, ehe ich die Zweiglein dem Wasser übergab, noch einen fragenden Blick nach dem Mädchen, das sich auf einem Stein niedergelassen hatte und mit zusammengezogenen Brauen und harten Augen meine Bewegungen verfolgte. Bald schwammen unsere Schicksalshölzchen auf dem schwarzen, ruhigen Wasser. Erst hielten sie sich zusammen, denn ich hatte sie mit den Knospen aneinandergeklemmt; aber in der Mitte des Weges wurden sie ein paarmal gedreht und dann auseinandergerissen. Mein Zweig taumelte zur Seite und begann sich am Ufer durch welkes Laub zu winden; Wallys Rütlein stellte sich sofort wieder ein und schoß gerade auf den Strudel zu, in dem es, mit dem roten Wimpel voran, verschwand und nicht wieder zum Vorschein kam. Wir waren beide betroffen. Wally hob ein Blatt auf, zerzupfte es versunken und nickte dazu schwer mit dem Kopfe. Dann lehrte sie mir ihr Gesicht zu und fragte lächelnd, aber mit unsicherer Stimme: »Hast du noch mehr solcher Zaubermittel?« Ich war nun entschlossen, den unglückseligen Vers auf jeden Fall für mich zu behalten, da er allein an dieser peinlichen Wandlung schuld war und antwortete trotzdem wie gebannt: »Wenn du versprichst, mich recht tüchtig mitzulachen, werde ich dir's sagen.« Sie leichte mir ihre Hand herauf, und nach einer kurzen Einleitung sprach ich die Strophe, nicht ohne geheime Beklemmung. Wally hörte mit zu Boden gekehrtem Gesicht zu und bat fortzufahren, als ich geendet hatte. Ich mußte bekennen, vor Bangen im Dichten steckengeblieben zu sein. »Wegen der letzten Zeile, nicht wahr?« fragte sie. Und als ich bejahte, hob sie den Kopf und sah mich mit verzehrenden Äugen an. Ihre Züge zuckten dabei in schmerzvoller Leidenschaftlichkeit. Ehe ich ein Wort sprechen konnte, kam es wie ein Sturm über sie. Sie sprang auf, umschlang mich, schluchzte, überdeckte mein Gesicht mit heißen, schlingenden Küssen, sog sich förmlich mit ihrem Körper an meinem Leibe fest und stammelte wie eine Verfolgte, in höchster Angst: Ich solle nicht an ihr zweifeln und sie nicht verlassen, denn sie liebe mich so unendlich, unendlich; mich, mich allein! Wir stockte das Herz vor Beklommenheit über die unbegreifliche Verwandlung dieses süßen, stillen Menschen. Ja, mich überfiel sogar etwas wie Scheu, daß ich nicht wagte, ihre fessellosen Liebkosungen zu erwidern. Da riß sie sich plötzlich los, hielt mich mit steifen Armen von sich, sah aus strömenden Augen forschend in mein Gesicht und sank mit einem leisen Wehlaut ganz erschöpft auf ihren früheren Sitz an dem Baum. Sie verfiel in totes Schweigen, und nichts rührte sich an ihr als die bebenden Schultern des über die Knie gebogenen Leibes. Ich trat heran, streichelte ihren Scheitel und rief sie liebreich bei ihrem Namen. Unter den Berührungen meiner Hände erschauerte sie wie frierend, und als ich Miene machte, sie herauf in meine Arme zu heben, entglitt sie mir, stand weggewandt, den Fluß hinaufsehend und begann dann langsam, wie in schwerer Betäubung, den Steig hinzuwandeln. Behutsam und still hielt ich mich neben ihr.
Derweil sickerte der Abend durch die Bäume, der Fluß begann zu rauchen, und wir kletterten den Abhang hinauf. Beim Abschiede war ihre Hand kalt und ihr Gesicht noch immer bewölkt von schamvollem Lächeln. »Auf Wiedersehen«, sagte ich und wollte sie umfangen; aber sie wich aus, krümmte schmerzvoll die Lippen und ging eiligen Schrittes davon.
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Am andern Tage wartete ich vergebens auf das Erscheinen Wallys am Fenster der Stadtmauer, vergeblich streifte ich abends vor dem zweiflügeligen Tore des Pausewangschen Hauses. Das Lämpchen blitzte wie ein gelber Nagelknopf von der finsteren Hinterwand des Flures, manchmal huschten Schritte die Stiege auf und nieder: Das Mädchen ließ sich nicht sehen. Und so blieb es auch die folgenden Tage. Ich war überzeugt, sie zürne mir, weil ich ihre leidenschaftlichen Liebkosungen unerwidert gelassen und kein Wort des Mitgefühls auf die Erzählung ihrer häuslichen Not gefunden hatte. Und wenn ich mich in der Tat der jungenhaften Angst auch ehrlich schämte, die mir das Wogen ihres Busens und das Feuer ihrer Küsse eingejagt hatte, so fühlte ich doch mit jedem Tage deutlicher, den sie sich entzog, daß das nicht der einzige, wenigstens nicht der tiefste Grund meiner Scheu gewesen war. Nein, eigentlich hatte mich deswegen diese vollkommene Ratlosigkeit erfaßt, weil sie, die Süße, gedämpft Heitere, das ganze Ebenbild meiner verklärten Schwester Anna, sich so jäh vor meinen Augen in das Gegenteil, in einen mir fremden, unbegreiflichen Menschen verwandelt hatte. Und weit, weit in meiner Ferne dämmerte außerdem eine Furcht, die noch kein Gesicht, und ein Zweifel, der noch kein Wort hatte. Darum brannte ich darauf, mich vor ihr und sie vor mir wieder zu rechtfertigen. Nach einer Woche wurde sie mir durch das Dunkel zugeführt. Ich lehnte grübelnd und frierend in der Pfeilernische neben dem Eingang des Pausewangschen Hauses. Der Ring war menschenleer, und die eisten Schneeflocken flimmerten ungestört durch den roten Lichtdunst der Laternen zur Erde. Neben dem Rathause türmte sich die steinerne Dreifaltigkeitsstatue wie ein erstarrter Springbrunnen aus Schatten in die halbe Finsternis hinauf. Und wie ich denken muhte, so erloschen und zugleich doch furchterregend sieht der alte Glaube in mir aus, näherte sich jemand mit behenden, leichten Schritten aus der Walauer Straße, blieb einen Augenblick am Denkmal stehen und strebte dann geraden Weges auf mich zu. Noch ehe