Als die Laternen erloschen, blieb sie stehen, neigte ihr Gesicht so nahe an das meinige, daß ich ihre Augen in der Nacht glänzen sah und sagte mit leiser, glückverhaltener Stimme: »Ich will jetzt ganz deine stille, sanfte Anna sein, nimmer die Wally, die dir wehtut, gar, gar nimmer!« So trennten wir uns. Sie verschwand in dem großen Haustor. und ich ging in die lichteste, trunkenste Nacht meines Lebens.
Wallys Gesicht, ihr ganzes Wesen, war nun für Wochen in friedvoll-sichere Stille getaucht. Ihre Altstimme klang wieder gesättigt von tiefer Beseeltheit. Manchmal waren ihre Zärtlichkeiten scheu, voll der frommen Verwunderung erster Mädchenliebe. Sie lauschte meinen Worten wie Offenbarungen und empfing meine Herzlichkeiten wie unverdientes Glück. Und doch sah sie mich oft mit erwartenden Augen an, wenn ich, mitten im Spiel der Liebe, von den Finsternissen meines Lebens gestreift, leichter Düsterkeit verfiel, als sehne sie sich nach einem tieferen Strom meines Daseins, nach der Sorge und Not meines Lebens. Aber ich brachte es nicht über mich, von dem Letzten und Heimlichsten meiner Seele zu ihr zu reden und wagte auch nie, nach den heiligen Verborgenheiten ihres Lebens meine Hand auszustrecken, sondern gab ihr immer nur Liebkosungen. Hatte ich so ihr Erwarten getäuscht, dann verharrte sie lange ratlos in meinen Anblick versunken und klagte dann leise, daß ich sie nicht liebe. Am anderen Tage, wenn ich in der Finsternis des Wintermorgens über den Ring ins Seminar ging, sah ich sie wohl mit dem Gebetbuch in der Hand zur Kirche eilen.
Kinzel traf ich nie wieder vor ihrem Hause. Dafür suchte er auf jede Weise an mich heranzukommen, grüßte mich, obwohl er einen ausgewachsenen Schnurrbart trug, bot mir Zigaretten an und schritt bald zu Vertraulichkeiten fort, von denen er sich durch meine deutliche Kühle nicht abhalten ließ. Er sog sich an mir fest und bohrte sich brutal in mich hinein. Wallys Demut und Trauer wuchs indessen und steigerte sich oft zur Ängstlichkeit. An einem Abende blieb sie wieder aus, ohne mir vorher ein Zeichen gegeben zu haben, und am anderen Tage sah ich sie blaß und verstört förmlich vor mir fliehen. Das reifte meinen Zweifel zum Argwohn und steigerte meine Furcht zum Zorn. Ich versuchte zwar noch einigemal, ihrer habhaft zu werden, aber nicht, sie mir wiederzugewinnen, sondern mich jäh von ihr loszuschneiden.
An einem Abende dehnte ich deswegen die Streifereien bis tief in die Nacht aus. Als ich nach Hause kam, hörte ich in dem finsteren Flur jemand dumpf und monoton murmeln. Ich riß mit einem Streichholz Licht und traf nach einigem Suchen meine Mutter, nur mit dem Hemd bekleidet, in den Winkel neben dem Speiseschrank geklemmt, mit dem Gesicht gegen die Wand, leer und verzweifelt vor sich niederredend. Sie lichtete vorwurfsvoll ihre Augen auf mich und sagte: »Kommst du endlich wieder zu uns? Da ist's nur gut!« Dann streichelte sie mir liebreich die Wange und schlüpfte in die Schlafstube. Wie ein Zunder fiel meine Liebe zu Wally von mir ab, und ich lag lange Stunden voll Schmerz und Schrecken wach, weil ich des flatterhaften, ungetreuen Mädchens halber das Schicksal meiner Eltern und meine heiligsten Gelübde vergessen hatte. Wir gingen die Augen auf. In den Monaten des abgewandten, betörten Herzens war meine Mutter abgemagert und um Jahre gealtert; auch den Vater hatte die Auflösung weiter zermergelt. Zwischen die Handgriffe des Gebastels, zu dem sein Arbeiten geworden war, flocht er oft erzählte Geschichten, die er nun auch launig aufzuputzen begann, und begleitete sie mit klanglosem Gelächter. Dann sog er die Lippen in den Mund und starrte regungslos auf seine Hände. Und an all dem Verfall hatte ich vorbeigelebt! Mit leidenschaftlichem Ruck riß ich mich in den Bann des Kummers zurück, dem ich entflohen war. In den Feierstunden stand ich neben dem Vater am Werktisch, schnitt Gurte, Besatzstücke und Strippen, stanzte Knopflöcher und falzte mit dem Bein dürftige Verzierungen ins Leder der Hosenträger. Dann saß ich oft bis über Mitternacht hinaus, vertieft in die Vorbereitungen zur Entlassungsprüfung. Bald erschien mir meine Liebe zu Wally nur noch als eine besonnte, trügerische Wolke, und mich erfaßte oft kalter Jubel, daß ich mich noch rechtzeitig aus dem gleißenden Spiel gerettet hatte. Wohl erschien sie, die ich in meiner Verblendung ungetreu nannte, manchmal zaghaft am Fenster oder lauerte hinter der Haustür, wenn ich über den Ring ging; ich achtete ihrer nicht. Ja, als ich nach Wochen einen Brief von ihr erhielt, las ich nur die ersten leidenschaftlichen Sätze und steckte ihn dann bitter lächelnd ins Feuer des Bombenöfchens.
Wie in eine eiserne Schnürbrust gepreßt lebte ich hin, wie in einen Kampf, entschlossen und wohlgerüstet, zog ich ins Examen, und als die Würfel zu meinen Gunsten gefallen waren, schritt ich durch die überschwengliche Freude meiner Kameraden stumpf, blaß und hart davon.
Auch das Glück meiner Eltern vermochte nicht, mich zu rühren. So schnell wie möglich warf ich das schwarze Prüfungshabit von mir und stellte mich wieder an den Werktisch meines Vaters. Dieser wehrte sich unter Hinweis auf meine neue Würde gegen meine Hilfe, verlangte, ich solle mich durch einige ausgelassene Tage austoben; schwieg aber endlich mißvergnügt und kopfschüttelnd, als er sah, daß all seine Liebe und seine Erregung an mir wie Wasser an einer Mauer hinabliefen. Meine Mutter irrte blaß durch die Stuben und betrachtete mich oft furchtsam aus einem geborgenen Winkel. Aber keines fragte nach dem Grunde meiner Freudlosigkeit.
Es war wieder Frühling, und alle Stunden des Tages, die mir der Dienst um meine Eltern frei ließ, brachte ich im Freien zu. Dort wanderte ich bis ans nächste Dorf heran, warf mich ins junge Gras und verlor mich an den Anblick des Himmels. Dies ruhe- und ziellose Wandern des weißen Gewölks ergriff mich noch allein; dies Kommen und Hinabtauchen des unbegreiflichen, was in jeder Wolke ist, löste die dumpfe, enge Härte in mir zu einem schwindenden Kreisen, daß mir die feste Erde, auf der ich ruhte, vorkam wie ein schwankes Schiff, das mich davontrug. Irgendwohin. Das Ziel war mir gleich. In dem Gefühl, losgelöst und ungeborgen zu sein, beruhte einzig der Friede jener verträumten Stunden. Und einmal, da ich, trunken von endlosen Fernen, mein Gesicht zur Seite neigte, sah ich die Spitze des Heisterberger Ratsturmes wie einen ins Feld gesteckten Stock, der wartete, daß jemand komme und ihn zu rüstiger Reise ergreife. Vielleicht, sann ich, wird alles, was mir in den Mauern meiner Stadt Schweres widerfahren ist, einst eine Stütze auf der Wanderung, die nun beginnt. Als aber auf dem Nachhausewege der Schall meiner erfrischten Schritte von den engen Gassen Heisterbergs wie keifend nachgeäfft wurde, zog meine Seele diese schüchternen Fühlfäden wieder an sich und war, wie vorher, hart, fest, empfindungslos, gleich ausgedörrtem Holz.
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Ich hatte die Reife für die letzte Fessel meines Lebens erreicht.
Eines Tages trat ich im leichten Abenddunkel aus dem Hause, um in einem Wandel übers Feld mich wieder zu stärken. An der Ecke des Mahnschen Hauses wurde ich von hinten zaghaft am Ärmel gezupft. Als ich mich umdrehte, stand Wally vor mir. Sie zog verwirrt an dem großen Tuch, womit ihr Kopf umhüllt war und sagte, sie müsse mich noch einmal sprechen.