So war ein Menschenleben in Flammen aufgegangen, das alle Stunden seines Daseins in Feuer gelodert hatte. In der Frühe nach dem Brande führte ein Bauer aus einem fernen Gebirgsdorfe seinen hochgeleiterten Lastwagen nach Heisterberg. Er war ein ferner Verwandter Willmanns mütterlicherseits und hatte vor zwei Tagen einen Brief des Greises empfangen, in dem dieser ihm das Mobiliar seiner beiden kleinen Stuben schenkte, da er entschlossen sei, die Stadt zu verlassen und auf immer nach Österreich zurückzukehren. Es kostete Mühe, den alten Mann von der Tätsächlichkeit des Unglücks zu überzeugen. Hartnäckig buchstabierte er in dem Briefe umher, stand lange auf der Schwelle des Turmpförtchens und schaute trübselig in die Finsternis der hohen Spitze, aus deren zusammengebrochener Tiefe der schwelende Rauch der letzten Balkenreste stieg, fiel sogar dem gealterten, galligen Bürgermeister Schrader beschwerlich und fuhr endlich untröstlich und mit Verwünschungen von dannen, als habe der alte Willmann diesen tragischen Tod nur gewählt, um seine geizige Sippe noch einmal gründlich zu ärgern. Die ganze Stadt, die das Wesen dieses einzigen Greises nur nach seinen vielfältigen Schrullen beurteilt hatte, machte sich die törichte Meinung des Bauers zu eigen und verunehrte sein Andenken sogar durch Zorn, der so weit ging, daß man nach den oberflächlichsten Bemühungen es für unmöglich erklärte, seine Überreste in der Asche aufzufinden und in geweihter Erde zu bergen. Selbst die Kirche nahm sich seiner Gebeine nicht an, weil er der österlichen Pflicht nie genügt hatte. Ja, der Pfarrer Zimbal fand in der sonntäglichen Predigt Gelegenheit, auf das schreckliche Ende als die gerechte Strafe eines unversöhnten Sünders hinzuweisen. So schweifte der einzige Mensch, der mein wegloses Leben ins Sichere hätte weisen können, als ungeborgener, verfemter Geist, und mir blieb nicht einmal der Trost, mich reinen Herzens an seinen Schatten schmiegen zu dürfen. Denn ob ich auch bald von der selbstquälerischen Bezichtigung loskam, ihn an seinem letzten Abende mit meiner Unruhe aufgescheucht und durch seine Stuben in den Tod getrieben zu haben, über die Neue wurde ich nicht Herr, daß mein untreues Fernbleiben seine letzten Wochen vergällt und den bitteren Entschluß in ihm gereift hatte, in der Fremde sein Grab zu suchen.
In jenen Tagen lag vollkommene Windstille über Heisterberg. und aus der herbstfeuchten Erde braute dichter Nebel um die Dächer der Stadt. Auf diese Weise quälte mich die Klage um den Toten ohne Unterlaß, und in den Bemühungen, sein Leben und sein Ende mit den Notwendigkeiten meines Geschickes in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, geriet ich in das undurchdringliche Dunkel, das mein Leben bis heute umfängt. Denn ich sagte mir, daß Willmanns Dasein wahrscheinlich ausgeklungen wäre, wie der Ton einer Glocke im Abendrot des fluchtreichen Herbstes einschläft, wenn ich nicht seinen geneigten Weg gekreuzt hätte. Und ich kam, selbstzerstörerisch diesem Gedanken nachhängend, zu der Überzeugung, nicht nur unsere Familie sei vom Schicksal zur Vernichtung bestimmt, sondern vor allem auf meinem Dasein laste so die Fülle des Unsegens, daß meine Berührung Heitere verdüstere und schon Bedrängte noch in tiefere Not hineintreibe. Kein Sonnenstrahl sank in die Schlucht, in die ich mich verirrt hatte, und doch umgab mich auch nicht ganz lichtlose Nacht. Denn wie hätte ich dann überhaupt existieren können!
Wenn ich den Zustand meines Lebens betrachte, wie er damals begann und mit wenigen Erleichterungen bis zu diesem Augenblicke angedauert hat, so gleicht er der Luft in diesem kleinen Zimmer in Wecknitz. Und wie ich hier hinter dem Schrank kauere, die Schatten meines Lebens heraufbeschwöre und noch einmal mit ihnen ringe, so habe ich all die schweren Jahre einsam und notvoll gegen sie gekämpft. Aber es blieb stockend um mich von den Finsternissen der Nacht wie hier. Kaum schwelte zu manchen Zeiten blasse Helle der Hoffnung über mich, wie vor den beiden Fenstern neben mir das eiste Wittern der Frühe bebt, während drunten noch alle verdunkelten Gärten schlafen und weiter draußen die schwarzen Feistelberge herüberdrohen. And wie das Licht dort auf dem Tische müde zuckt und doch an seinem Verdursten sich immer wieder zu neuen bleichen Schleiern aufrafft, so glomm mein Geist stets neue, blasse Kreise der Erkenntnis vor meine Füße, daß ich nicht ganz verzagte. Aber ich blieb doch in Mauern gefangen, die eng und niedrig wie die Wände dieses Zimmers um mich standen, und der Ausweg schwankte stets ungewiß und verschlossen in den Schatten vor mir wie die Tür dort neben Bettstatt und Ofen.
Es waren fast oresteische Ketten, mit denen ich mich selbst gefesselt hatte. Aber eines der seltsamsten Mittel, die Menschen anwenden, ihrem Leiden zu entschlüpfen, besteht darin, daß sie es übertreiben, und so hatte ich es in den vier Nebeltagen nach Willmanns Tode dahin gebracht, mir nicht nur unsere Familie und vor allem mich, sondern das Leben der Menschen überhaupt und die ganze Welt zu Schmerz und Not geschaffen vorzustellen. Mochte ich die kurze Burgzeile hinauf- oder hinuntersehen, überall fand ich die geheimnisvolle grause Nacht am Werke, die Menschen in immer tiefere Finsternisse zu ziehen. Den Fleischer Mahn hatte der Trunk von seinem jagenden Gefährt unter die Räder gestoßen, der alte Grulich saß erblindet vor der Schusterkugel in seiner Stube, und der Pfeffer-Gerber strich zwar wie sonst noch an den Abenden hinter den Johannisbeersträuchern des Gärtleins an der Stadtmauer umher und sang, die rechte Hand unters Kinn geschlagen, in die Schatten, aber sein Lied klang nicht mehr verschüchtert und leise. Denn seine eheliche Rechtlosigkeit hatte ihn endlich wundgerieben, und von heimlichem Rausch entzündet, schnob das demütige, zerbrechliche Männchen Revolutionsgesänge, bis er in der Laube über den Tisch sank und einschlief. Wohin ich sinnen und sehen mochte, es gab nicht einen Menschen, den sein Schicksal nicht plagte. Hatte ich also ein Recht, gegen das große Dunkel mich aufzulehnen, das alle führt? War es nicht vielmehr meine Pflicht, meine Qual mutig auf mich zu nehmen und treu zu tragen? Soweit war ich, als der Nebel, der so lange die Dächer Heisterbergs bedrückt hatte, eines Abends verschwand wie eine Decke, die unversehens jemand wegzieht, und alles schimmerte und läutete in der Stadt. Die Kinder faßten sich an den Händen und wogten in bunten, singenden Ketten die Häuser hin. Der Himmel flatterte über den Türmen wie eine blauseidene, schimmernde Fahne, in die die sinkende Sonne rote Streifen malte. Und plötzlich kam mit der Tod des alten Willmann auch nicht mehr so schrecklich vor. Er war in das Feuer hineingestorben, in das Licht, in die Verklärung alles Irdischen, und wie mich dieser Gedanke, gleich einer Erlösung, überfiel, brachte ich es auch über mich, aus meinem Fenster hinaus wieder den alten Wartturm anzusehen.
Er stand in rosigem Licht da. Aber seinem verwitterten Gemäuer bebte der Schimmer wie eine empfindsame Haut, und der Adler lag mit gebreiteten Schwingen über der Spitze, als sei er im Begriff, gestreckten Fluges sich in den Himmel fortzuschwingen. So war die Seele des Greises ins Unermeßliche entwichen, reißend, mit einem schreckhaft frohen Jauchzen, und ich betrachtete den Turm, von Abendglut übergossen, wie eine Offenbarung, wie ein tiefes Symbol eines tiefen Lebens. Meine Augen suchten selbst in den Winkeln und ausgebröckelten Löchern des verwitternden Gebäudes noch bedeutsame Spuren dieses geliebten, ausgereiften Lebens. Das schwindende Licht rückte indessen immer höher an dem Gemäuer hinauf, und nun loderten die Mauerzacken wie ein Feuerkranz um die plumpe, hohe Spitze. Und in der linken Ecke bemerkte ich auf einer Stange, gleich einer winkenden, blassen Hand, einen hohen Strauß weißer Astern. Ich war von dem Anblick so erschüttert, daß mir die Tränen nur so über die Wangen schossen. Mit Blumen grüßte mich der Tote noch von jenseits des Grabes her! Ich barg meinen Kopf in die Hände und verlor mich in die Vergangenheit. Da sah ich den Ehrwürdigen hinter der Wehrmauer stehen, und der Abend blühte so rot wie heute um die Spitze. Aus dem Fenster in der Stadtmauer neigte sich ein blonder Mädchenkopf. Als Willmann den sah, blinzelte sein Auge glücklich zu mir her, der neben ihm stand, nahm Samenkörner, streute sie in den Abend hinaus und sagte: Wir wollen das ins Licht säen, damit ihr Leben ins Sonnenhafte gedeihe ...
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