Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
Скачать книгу
von einigen gerichtet, von andern erhoben.«

      Darauf sah er sich mit umfangendem Blick in der Stube um, als nehme er Abschied, langte von der Wand das kleine Bild seiner Mutter, brach es aus dem Rahmen und steckte es zu sich. »Komm, laß uns gehen, Kastner, denn der Morgen ist nahe«, sprach er dann fest und ruhig, ergriff Stock und Mantel und verließ, vor mir herschreitend, das Zimmer.

      Einige Steinwürfe von der Schule entfernt, dem Birkenwäldchen gegenüber, durch das der Weg über Raspenau in die Welt hinausführte, häufelte sich am Rand des Wecknitzer Kessels ein kleiner Hügel, auf dem ein breitschirmiger, dichter Feldbirnbaum im lichten Weiß seiner brechenden Knospen stand. Dorthin lenkte Faber seine Schritte, und während des Hinganges sprach er: »Menschen binden uns, und Menschen lösen uns, und deren Hände uns aus dem Grabe heraus noch fesseln, denen muß man das Knie auf die kalte Brust setzen und den Griff ihrer Finger aufbrechen. Die Stunde, da ich dies darf, ist heute für mich gekommen, denn nun sind meine Hände ohne Makel. In all den Jahren meiner Buße und des leidvollen Wartens hatte ich nur die Form des Lebens. In Wirklichkeit aber irrte ich als Toter um die Hügel meiner Toten und rang mit ihnen, daß sie mich entließen in meine Sehnsucht, die immer ferner und ferner her lockte. Denn wie der Baum dem Samen, den er entläßt, seine Art aufzwingt, wie die Welle in die andere vergeht, um sich zu wiederholen: so erben auch die Menschenkinder die Fesseln derer, die sie zeugten, und Tausende und Abertausende wachsen und welken nutzlos hin wie das Gras der Gräber.«

      Unter diesen Worten waren wir an dem Baum des Hügels angekommen. Faber breitete seinen Mantel aus und lud mich ein, neben ihm Platz zu nehmen, indem er sprach: »Hier wollen wir warten, bis die Sonne kommt. Ich bitte dich, Kastner, bleibe diese letzten Stunden noch bei mir.«

      Links von uns schnitt zwischen Weiden, die silbriggrau wie schwach bewegter Rauch wallten, der Fingergraben durch den engen Kessel und zog weiter hinten eine sanfte Furche zwischen den Feistelbergen ins Land hinaus. In dieser Einsattelung quoll jetzt der erste Schimmer des Tages herauf, ein weißes, machtloses Licht, schon zu stark zum Vergehen und noch zu schwach zum Blühen. Dort hinein sah Faber lange, als warte er, daß etwas daraus herkomme in ihn. Und da er eine Weile vergeblich geharrt hatte, senkte er den Kopf und ward wieder traurig.

      »Viele Nächte«, sprach er, »habe ich durchwacht, bin in Feldern und Wäldern umhergeirrt und habe mich wohl auch auf den Kirchhof in Raspenau geschlichen, um an den Gräbern zu sitzen. Denn wo immer ein Mensch unter dem Hügel ruht, da liegt unser Vater, unsere Mutter, unsere Schwester, oder unser Bruder. Aber die Erlösung für den Lebendigen steigt ja nicht aus den Gräbern. Trotzdem wartete ich in verblendeter Treue, daß sich mein Morgen aus dem Leibe von Gespenstern gebäre. Die Sonne kam dann wohl; aber es wurde nicht Tag für mich. Denn der Tod meiner Eltern war schwer und trostlos und nahm den Bann nicht von mir, mit dem ihr Leben mich gekettet hatte.

      Etwa ein Jahr nach meinem Weggange aus Heisterberg fand meine Mutter eines Morgens den Vater tot vor dem Werktisch sitzen, mit dem Oberkörper über seine Arbeit gesunken, den Hammer in der kalten Hand. Obwohl er seit Jahren keine Beziehung mehr zur Kirche hatte, wurde ihm auf das inständige Bitten meiner frommen Mutter das christliche Begräbnis gewährt. Doch es verlief, wie die Totenfeier für einen Ausgestoßenen. Nur wenige folgten der Leiche auf den Kirchhof. Der wahnsinnige Dorn-Schuster, über und über mit Blumen besteckt, ging eifrig gestikulierend und unter fortwährenden Selbstgesprächen in dem kleinen Schwarm. Von ferne schwankte Rinke dem Sarge nach. Er weinte von Zeit zu Zeit laut auf, riß den Hut herunter und schlug an seine Brust. Als das letzte Lied am Grabe gesungen wurde, erschien sein blasses, gramvolles Trinkergesicht über der Mauer, denn er hatte sich nicht auf den Gottesacker getraut. Plötzlich schrie er in höchster Pein mit fast tierischer Stimme: »Ich bin ein Hund! Ich bin ein Hund!« und hörte nicht auf, bis ihn der Polizist abführte. Dorn las alle Blumen von seinen Kleidern, warf sie dem Sarge nach, kniete hin und küßte inbrünstig die Totenbretter. Dann lief er, von großer Angst gepackt, durch die Straßen der Stadt ins Spital zurück.

      Am tiefsten wurde meine Mutter davon erschüttert. Sie sah in diesem Fluch über das Grab hinaus die Strafe Gottes und hielt sich von da an eigentlich nur noch in der Kirche auf. Sie lag vom Morgen bis zum Abend hinter den Bänken im finstersten Winkel auf den Knien und betete. An einem hellen Sommertage sahen sie Leute ein Fenster unseres Hauses nach dem Stadtgraben zu öffnen und, mit einem langen, weißen Mantel angetan, auf das Fensterbrett treten. Ihr Gesicht war glückvoll, und sie sang ein ganz leises Lied. Ehe noch jemand zu Hilfe kommen konnte, breitete sie die Arme aus und stürzte mit dem jauchzenden Ruf: »Der Himmel!« auf die Straße.

      – – – – – – –

      Auf halbem Wege ist mein Vater umgekommen, der ehrwürdige Wahn hat meine Mutter in den Tod verwirrt. Von den Gräbern der Ahnen wehte eine Luft der Angst. Und ich war zehn Jahre ein Mann des halben Weges, litt weiter am alten Wahn und den Fesseln des Gewesenen. Aber in den Söhnen wird ja nicht bloß das Vergangene wiedergeboren, sondern es kommt mit ihnen das Uranfängliche, das das wahre Künftige ist, zur Welt. Ob wir auf seidene Kissen oder auf Stroh in dieses Leben fallen: ein jeder Mensch ist ein neues Gottes-, Welt- und Menschengericht.

      Ich war das Kind meiner Eltern in Not und Treue; nun bin ich mein eigener Vater geworden, mein Sohn und mein heiliger Geist. Es ist ein neues Sehen in mir, ein neues Wissen und Sehnen. Das will ich den Menschen bringen: Denn die alten Wahrheiten sind schal geworden. Sie gleichen leeren Hülsen und Glocken, die das Geläut verloren haben.«

      Dieses alles sprach Faber wie einen hohen Gesang in das Morgenlicht hinein, das sich immer heller entzündete. Aus seinem Gesicht war alle Düsterkeit gewichen, und der Klang seiner Stimme quoll über von eherner Sanftmut.

      Der Wald des Feistelberges trat immer deutlicher aus der Dämmerung heraus und es war, als wandere er aus der Ferne zu uns heran. Von Raspenau tönte wie ein traumhaftes Lied der Stundenschlag der Uhr.

      Faber achtete auf alles in heiterer Bereitschaft und sprach dann: »In einer Stunde kommt die Sonne. Wir wollen uns derweil hinlegen und schlafen. Dann gehst du in deinen Dienst und ich in meinen.«

      Er wickelte sich in den Mantel und versank sogleich in tiefen Schlaf. Ich war überwach von den Ereignissen der Nacht, und während ich allem noch einmal nachsann, betrachtete ich voll Staunen das Gesicht meines ruhenden Freundes, der nach den fast übermenschlichen Anstrengungen dalag, stark und schön, wie einer, den Frohsinn ermüdet hat, und ich wurde fast traurig und zaghaft im Betrachten dieses Unzerbrechlichen.

      Indessen erwachte das Geflöt der Amseln im Walde. Lerchentriller schossen in die Höh' und taumelten wieder schlaftrunken ins Gras. Zuletzt wurde es mir auch grau vor den Augen. Ich lehnte mich gegen den Stamm des Feldbirnbaumes und schlief ein.

      Ein Gemurmel weckte mich. Als ich die Augen öffnete, schwebte die Sonne wie eine riesige, glühende Hostie über den Feistelbergen, und Faber stand außerhalb des Baumschattens auf dem Hügel, von dem ersten Licht umflossen und redete in das Gestirn hinein. Jetzt, da er sah, daß ich wach sei, trat er an mich heran, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Ich danke dir von Herzen, Kastner! Du hast mir das Beste gegeben, was ein Mensch dem anderen geben kann: Du warst mir ein Licht auf meinem Wege, und deine treue Seele klang mir den Sinn meines Sinnens wider. Lebe dein Wohl! das ist mein Wunsch. Und wenn du mir einen Gefallen erweisen willst, so sieh dann und wann beim alten Plaschke nach, dem ich meine Sachen schenke. Grüße ihn herzlich von mir und gib Liese diese Andenken wieder. Sage ihr dabei: Die Getrennten sind nicht geschieden. Dann hat ihr Leben ein Hoffen.«

      Ich fragte ihn noch, was ich der Schulbehörde sagen solle und wohin er zu reisen gedenke.

      Er antwortete: »Sprich: Er hat als ein Tor töricht gehandelt und ist seinen Füßen nachgelaufen.« Damit schritt er den Hügel hinunter und verschwand in dem Gewirr der Obstbäume, zwischen den Hütten, in denen da und dort ein Webstuhl dumpf zu stampfen begann. Der Morgenwind strich durch die Kronen und trieb die Blütenblätter in die Luft, daß sie wie ein weißer Regen von der Erde in den Himmel wirbelten. Der Nadelwald rauschte ehern wie ein ferner Wasserfall; die Birken wiegten sich mit leisem Gesäusel, und ihre jungen Blätter zitterten wie der unruhige Schleier grüner, tanzender Mücken um die weißen Stämme.

      In Gedanken versunken, stieg ich noch einmal in Fabers Stübchen