Der Wasserstand hatte jetzt um zwei Fuß abgenommen, und es entstand die Frage, ob sich zwischen den Klippen vielleicht eine Art Kanal hinziehe.
In der Meinung, von der Höhe des Fockmastes die ganze Anordnung des Klippengürtels besser übersehen zu können, begab sich Briant nach dem Vorderdeck, erklomm die Steuerbordwanten und kletterte dann noch an den Tauen der Bramstenge1 hinauf.
Quer durch die Klippenbank zeigte sich da eine Durchfahrt, deren Richtung durch viele, sie auf beiden Seiten begrenzende Felsblöcke angedeutet war und der man folgen musste, wenn man mit Hilfe der Jolle nach dem Strand gelangen wollte. Augenblicklich freilich brodelte und wirbelte die Brandung hier noch viel zu heftig, um sich jener mit Erfolg bedienen zu können. Unfehlbar wäre die Jolle auf eine Felsspitze geworfen und damit schwer beschädigt, wenn nicht vernichtet worden. Es empfahl sich also, noch so lange zu warten, bis das sinkende Meer hier eine gefahrlosere Wasserstraße zurückließ.
Von der Oberbramrah aus, auf welcher Briant reitend sich anklammerte, bemühte sich dieser, das Uferland noch genauer zu besichtigen. Er suchte mit dem Fernglas Stück für Stück den Strand ab, bis zu der höher ansteigenden Hinterwand desselben. Zwischen den beiden, etwa acht bis neun Seemeilen voneinander entfernten Vorgebirgen schien die Küste völlig unbewohnt zu sein.
Nach halbstündigem Auslugen stieg Briant wieder hinunter und berichtete seinen Gefährten, was er gesehen. Wenn Doniphan, Wilcox, Webb und Cross ihm zuhörten, ohne etwas zu sagen, so fragte ihn Gordon dagegen:
»Als der ›Sloughi‹ strandete, Briant, war es da nicht gegen sechs Uhr morgens?«
»Ja«, antwortete Briant.
»Und wie lange dauert es bis zum niedrigsten Wasserstande?«
»Ich glaube fünf Stunden. — Nicht wahr, Moko?«
»Ja, zwischen fünf und sechs Stunden«, erklärte der Schiffsjunge.
»Das träfe also gegen elf Uhr ein«, fuhr Gordon fort. »Dann wäre der günstigste Zeitpunkt zu dem Versuch, die Küste zu erreichen.«
»So hatte ich auch gerechnet«, bemerkte Briant.
»Nun wohl«, nahm Gordon wieder das Wort, »wir wollen uns für diese Zeit bereithalten und inzwischen etwas essen. Sind wir gezwungen, selbst ins Wasser zu gehen, so geschehe das wenigstens mehrere Stunden nach eingenommener Mahlzeit.«
Ein guter Rat, wie er von diesem klugen Knaben zu erwarten war. Jetzt ging’s also an das erste, aus Konserven und Biskuit bestehende Frühstück. Briant besorgte und überwachte dabei vorzüglich die Kleinen. Jenkins, Iverson, Dole, Costar begannen sich bei der glücklichen Sorglosigkeit ihres Alters schon wieder völlig zu beruhigen und hätten gewiss ohne jede Rücksicht darauf losgegessen, denn sie hatten seit vierundzwanzig Stunden nichts über die Lippen gebracht. Alles ging jedoch gut ab, und einige Tropfen mit Wasser verdünnten Brandys lieferten ein anregendes Getränk.
Nach eingenommenem Frühstück begab sich Briant wieder nach dem Vorderteil des Schoners und beobachtete, auf die Schanzkleidung gestützt, die Klippenreihe.
Wie langsam wich doch das Meer zurück! Es lag aber auf der Hand, dass dessen Niveau sich erniedrigte, denn die Schieflage des Schoners nahm noch weiter zu. Moko hatte mittels eines Senkbleis gefunden, dass noch mindestens acht Fuß Wasser über der Bank standen. Dass die Ebbe so tief sinken würde, um jene völlig trockenzulegen, glaubte Moko nicht annehmen zu dürfen und teilte seine Ansicht Briant heimlich mit, um niemand unnötig zu erschrecken.
Briant setzte dann Gordon hiervon in Kenntnis. Beide begriffen, dass der Wind, obwohl er noch weiter nach Norden umgegangen war, doch das Meer verhinderte, soweit zurückzusinken, wie es bei stillem Wetter der Fall gewesen wäre.
»Was beginnen wir dann also?« sagte Gordon.
»Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht …!« antwortete Briant. »Und welches Unglück, es nicht zu wissen … welches Unglück, in unserer Lage fast noch Kinder und, wo es so nötig wäre, nicht Männer zu sein.«
»Die Notwendigkeit wird unsere Lehrmeisterin sein«, versicherte Gordon. »Verzweifeln wir nicht, Briant, und handeln wir klug!«
»Ja, handeln, Gordon! Wenn wir den ›Sloughi‹ vor Wiedereintritt der Flut nicht verlassen haben, wenn wir noch eine Nacht an Bord bleiben müssen, sind wir verloren …«
»Kein Zweifel, denn die Yacht wird dann zertrümmert werden. Wir müssen dieselbe auf jeden Fall verlassen haben …«
»Gewiss; um jeden Preis, Gordon!«
»Wäre es nicht ratsam, eine Art Floß oder etwas wie eine Fähre herzustellen?«
»Daran hab’ ich wohl auch gedacht«, antwortete Briant, »leider hat uns der Sturm aber alles dazu geeignete Material entführt. Die Schanzkleidung abzubrechen, um aus deren Teilen ein Floß zusammenzuzimmern, dazu fehlt uns die Zeit. So bleibt nur die Jolle übrig, deren wir uns aber bei dem schweren Seegange nicht bedienen können. Doch nein, wir könnten auch noch versuchen, ein Tau durch den Klippengürtel zu ziehen und dessen Ende an der Spitze eines Felsens zu befestigen. Vielleicht gelingt es uns, daran bis ganz in die Nähe des Strandes hingleiten zu können …«
»Wer soll das Tau aber auslegen?«
»Ich«, erklärte Briant.
»Und ich werde dir helfen«, sagte Gordon.
»Nein, ich vollbring es allein«, versetzte Briant.
»Denkst du, dabei die Jolle zu benützen?«
»Das hieße, es wagen, sie ganz einzubüßen, Gordon, und es ist besser, diese als allerletztes Hilfsmittel aufzubewahren.«
Bevor er zur Ausführung seines gefahrvollen Vorhabens schritt, wollte Briant jedoch, um jede unglückliche Möglichkeit auszuschließen, noch eine nützliche Maßregel treffen.
An Bord befanden sich verschiedene Schwimmgürtel, und er veranlasste die kleinsten Gefährten, sich sofort mit denselben auszurüsten. Im Fall sie die Yacht verlassen mussten, während das Wasser noch so tief war, dass diese mit den Füßen keinen Grund fanden, würden diese Apparate sie schwimmend erhalten, und die größeren Knaben, welche an