Inzwischen sank das Wasser mit der Ebbe, doch sehr langsam, weiter zurück, denn der Wind von der Seeseite hemmte dessen Abfluss, obwohl dieser bei einer gleichzeitigen Drehung nach Nordwest schwächer zu werden schien. Jetzt galt es also sich bereitzuhalten für den Augenblick, wo die Klippenreihe einen Übergang gestatten würde.
Es war nun gegen sieben Uhr. Jeder beschäftigte sich damit, die für den ersten Bedarf notwendigsten Gegenstände auf das Deck zu schaffen, in der Hoffnung, die übrigen aufzufischen, wenn die Wellen sie ans Ufer trügen. Die Großen wie die Kleinen legten hierbei die Hände an. An Bord befand sich unter anderem ein großer Vorrat an Konserven, Biskuit, an gepöckeltem und geräuchertem Fleisch. Diese Nahrungsmittel wurden zu handlichen Ballen verpackt und sollten, unter die Größeren verteilt, von diesen ans Land geschafft werden.
Um das aber ausführen zu können, musste die Klippenreihe erst einen trockenen Weg bieten, und niemand wusste doch, ob das Meer sich auch beim niedrigsten Stand soweit zurückziehen würde, um die Felsen bis zum Strand bloßzulegen.
Briant und Gordon beobachteten unablässig und aufmerksam das Meer. Mit der Veränderung der Windrichtung wurde die Luft merkbar ruhiger und die Gewalt der Brandung begann ebenfalls nachzulassen, so wie man leicht bemerken konnte, dass das Wasser an den hervorragenden Felsblöcken niedersank. Der Schoner selbst lieferte einen Beweis für diese Abnahme des Wasserstandes, da er sich noch etwas weiter nach Backbord überneigte. Es war sogar zu befürchten, dass diese Neigung noch ferner zunahm und er sich ganz auf die Seite legte, denn er hatte sehr feine Formen und einen schlank abgerundeten Rumpf mit hohem Kiel, gleich den schnellsegelnden Yachten. Wenn das Wasser dann das Vorderdeck des Fahrzeuges eher erreichte, als man das letztere verlassen konnte, musste die Situation sich äußerst bedrohlich gestalten.
Wie beklagenswert erschien es nun, dass die Boote vom Sturme weggerissen worden waren. Diese hätten hingereicht, die ganze Gesellschaft aufzunehmen, und die jungen Leute wären jetzt schon in der Lage gewesen, einen Landungsversuch zu unternehmen. Und welche Bequemlichkeit eine Verbindung zwischen Schoner und Küste zu unterhalten, um vielerlei nützliche Gegenstände, die jetzt an Bord zurückgelassen werden mussten, fortzuschaffen! Wenn der »Sloughi« schon die nächstfolgende Nacht vielleicht in Stücke ging, was waren seine Wracktrümmer wert, nachdem die Brandung sie durch die Klippenreihe hingewälzt hatte? Konnten diese überhaupt noch nützliche Verwendung finden? Würden dann die noch übrigen Vorräte nicht vollständig havariert sein? Sahen sich die jungen Schiffbrüchigen nicht in kürzester Zeit allein auf die Hilfsquellen angewiesen, welche dieses Land ihnen bot?
Ja, es war ein beklagenswerter Umstand, dass kein Boot mehr vorhanden war, um die Ausschiffung zu bewerkstelligen.
Plötzlich ertönte vom Vorderdeck ein lauter Aufschrei. Baxter hatte eine jetzt hochwichtige Entdeckung gemacht.
Die für verloren gehaltene Jolle hatte sich unter dem Knie des Bugsprits in den Ketten des letzteren gefangen. Diese Jolle konnte freilich nur fünf bis sechs Personen aufnehmen; doch da sie sich unbeschädigt zeigte, was leicht zu erweisen war, nachdem man sie aufs Deck gezogen hatte, erschien es nicht unmöglich, sie zu benutzen, im Falle das Meer die Überschreitung der Klippen trockenen Fußes verhinderte. Hierzu musste man natürlich den niedrigsten Stand der Ebbe abwarten, und inzwischen kam es wieder zu einer lebhaften Auseinandersetzung, vorzüglich zwischen Briant und Doniphan.
Doniphan, Wilcox, Webb und Cross, die sich der Jolle bemächtigt hatten, gingen nämlich schon daran, sie wieder über Bord zu befördern, als Briant auf sie zutrat.
»Was beginnt ihr hier?« fragte er.
»Was uns passt!« antwortete Wilcox.
»Ihr wollt dieses kleine Fahrzeug besteigen …?«
»Ja«, erwiderte Doniphan, »und du wirst uns nicht davon abhalten.«
»Das werd’ ich doch tun, ich und alle die übrigen, die du verlassen willst.«
»Verlassen …? Wer sagt dir das?« antwortete Doniphan hochmütig. »Ich will niemand verlassen, verstehst du? Wenn wir erst am Strand sind, wird einer die Jolle zurückrudern …«
»Und wenn er nicht zurückkehren kann«, rief Briant, der sich nur mit Mühe beherrschte, »wenn sie zwischen den Felsen leck würde …«
»Einsteigen …! Zum Einsteigen fertig!« unterbrach ihn Webb, der Briant zurückdrängte.
Von Wilcox und Cross unterstützt, hob er schon das leichte Fahrzeug auf, um es ins Wasser zu bringen.
Briant packte dasselbe an dem einen Ende.
»Ihr werdet nicht einsteigen!« rief er.
»Das wollen wir doch sehen!« antwortete Doniphan.
»Ich sage euch, ihr steigt nicht ein!» widerholte Briant, entschlossen im Allgemeinen Interesse Widerstand zu leisten. »Die Jolle muss zunächst für die Kleinsten zurückbehalten werden, im Falle auch bei niedrigem Meere zu viel Wasser stehenbliebe, um den Strand zu erreichen.«
»Lass uns in Ruhe!« schrie Doniphan aufbrausend. »Ich erkläre dir nochmals, Briant, du wirst uns nicht hindern zu tun, was wir wollen.«
»Und ich wiederhole dir, Doniphan«, herrschte ihn Briant ebenso laut an, »dass ich euch doch hindern werde!«
Die beiden Knaben waren schon bereit, aufeinander loszustürzen. Bei diesem Streit hätten Wilcox, Webb und Cross natürlich für Doniphan Partei ergriffen, während sich Baxter, Service und Garnett voraussichtlich auf Briants Seite stellten. Die Sache hätte die schlimmsten Folgen haben können, als Gordon sich noch ins Mittel legte.
Gordon, der älteste und besonnenste von allen, sah das Beklagenswerte eines solchen Zwischenfalls ein, und war vernüftig genug, sich zu Gunsten Briants auszusprechen.
»Halt! Halt, Doniphan!« rief er, »etwas Geduld! Du siehst doch, dass der Seegang noch stark ist und wir Gefahr laufen, unsere Jolle ganz einzubüßen.«
»Ich mag es nicht leiden, dass Briant uns Gesetze vorschreibt, wie er sich das seit einiger Zeit angewöhnt hat«,