Es war eine Yacht von hundert Tonnen — ein Schoner, mit welchem Namen man in England und Amerika solche Goeletten1 bezeichnet.
Dieser Schoner führte den Namen »Sloughi«; doch vergebens hätte man denselben am Achter des Fahrzeugs zu lesen gesucht, da die betreffende Tafelplanke durch irgendeinen Zufall — durch Anprall der Wogen oder Kollision — unter der Reling zum größten Teil abgesprengt war.
Es war jetzt um elf Uhr nachts. Unter den Breiten, wo sich das Schiff befand, sind die Nächte zu Anfang des März noch kurz. Das erste Tagesgrauen war etwa gegen fünf Uhr morgens zu erwarten. Doch verminderten sich damit, dass die Sonne den Weltraum erleuchtete, die Gefahren, welche den »Sloughi« bedrohten? Blieb das gebrechliche Fahrzeug nicht noch immer der Gnade der ungeheuren Wogen anheimgegeben? Unzweifelhaft; nur die Besänftigung der hohlen See, das Abflauen des wütenden Sturmes konnte dasselbe vor dem entsetzlichsten Schiffbruch bewahren, vor dem auf offenem Meere, fern von jedem Land, auf dem die Überlebenden vielleicht hätten Rettung finden können.
Auf dem Hinterteil des »Sloughi« standen drei Knaben, der eine im Alter von vierzehn, die beiden anderen in dem von dreizehn Jahren, und außerdem ein zwölfjähriger Schiffsjunge von Negereltern, am Steuerrad. Hier vereinigten sie ihre Kräfte, um den seitwärts anstürmenden Wellen, welche die Yacht querzulegen drohten, Widerstand zu leisten. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn das trotz ihres Entgegenstemmens sich drehende Rad schien sie jeden Augenblick über die Schanzkleidung schleudern zu können. Kurz vor Mitternacht brach auch einmal eine solche Wassermasse über die Seite der Yacht herein, dass es ein Wunder zu nennen war, als das Steuer derselben noch glücklich standhielt.
Die Knaben wurden zwar von dem Stoße umgeworfen, konnten sich aber sofort wieder erheben.
»Gehorcht es noch dem Steuer, Briant?« fragte einer derselben.
»Ja, Gordon«, antwortete Briant, der seinen Platz schon wieder eingenommen und offenbar die gewohnte Kaltblütigkeit bewahrt hatte.
Darauf wandte er sich an den Dritten.
»Festhalten, Doniphan«, rief er, »und auf keinen Fall den Mut verlieren …! Es gilt, außer uns auch noch andere zu retten!«
Diese Worte wurden englisch gesprochen, doch verriet der Tonfall bei Briant die französische Abkunft.
Dieser kehrte sich nachher nach dem Schiffsjungen um.
»Du bist doch nicht verletzt, Moko?«
»Nein, Herr Briant«, erklärte der Gefragte. »Doch lassen Sie uns darauf achten, die Yacht gerade gegen die Wellen zu halten, sonst laufen wir Gefahr, versenkt zu werden!«
Eben wurde die Kappentür der nach dem Salon des Schoners hinabführenden Treppe hastig geöffnet.
»Briant …! Briant!« rief ein Kind von neun Jahren. »Was ist denn geschehen?«
»Nichts, Iverson, gar nichts«, erwiderte Briant. »Geh mit Dole wieder hinunter, aber recht schnell!«
»Ach, wir fürchten uns so sehr!« ließ sich das zweite, noch etwas jüngere Kind vernehmen.
»Und die anderen?« fragte Doniphan.
»Die anderen auch!« versicherte Dole.
»Nun geht nur alle hinunter«, ermahnte Briant. »Schließt euch fest ein, sucht eure Lagerstätten auf und macht die Augen zu, dann werdet ihr keine Furcht mehr spüren. Gefahr ist nicht vorhanden.«
»Achtung …! Wieder eine große Welle!« rief Moko.
Ein gewaltiger Anprall erschütterte das Hinterteil der Yacht. Diesmal schlug die See glücklicherweise nicht über, denn wenn das Wasser in größerer Menge durch die Treppentür gedrungen wäre, hätte sich die noch weiter belastete Yacht bei dem starken Seegang schwerlich wieder aufrichten können.
»Macht doch, dass ihr hineinkommt!« rief Gordon. »Hinunter, oder ihr bekommt’s mit mir zu tun!«
»Geht, geht hinunter, ihr Kleinen!« setzte Briant in freundlicherem Ton hinzu.
Die beiden Köpfe verschwanden gerade in dem Augenblick, wo ein anderer am Treppenausgang erscheinender Knabe fragte:
»Du bedarfst unser nicht, Briant?«
»Nein, Baxter«, antwortete dieser. »Du magst mit Cross, Webb, Service und Wilcox bei den Kleinen bleiben. Wir vier sind uns genug.«
Baxter schloss wieder sorgfältig die Tür.
»Die anderen fürchteten sich auch!« hatte Dole gesagt.
Aber befanden sich denn ausschließlich Kinder auf diesem vom Orkan verschlagenen Schoner? — Ja, nichts als Kinder. — Und wie viele waren es? — Fünfzehn, unter Einrechnung Gordons, Briants, Doniphans und des Schiffsjungen. — Durch welche Zufälligkeiten diese allein mit ihrem Schiff abgesegelt waren, werden wir später erfahren.
Und auf der Yacht befand sich kein erwachsener Mann? Kein Kapitän, um diese zu führen? Kein Seemann zur Bedienung des Segelwerkes und der Takelage?2 Kein Steuermann, um bei diesem Sturm das Steuer zu handhaben? — Nein, kein einziger!
Ebenso hätte keine lebende Seele an Bord genau angeben können, an welchem Ort auf dem Ozean der »Sloughi« sich befinde … Welcher Ozean war es überhaupt …? Der ausgedehnteste von allen, das Stille Weltmeer, das sich über 140 Längengrade von der Landmasse Australiens und den Küsten Neuseelands bis zur Küste von Südamerika erstreckt.
Was mochte hier vorgegangen sein? War die Besatzung des Schoners durch einen Unfall verungückt? Hatten malaiische Seeräuber sie entführt und an Bord die jungen Passagiere, deren ältester kaum vierzehn Jahre zählte, ihrem Schicksal überlassen? Eine Yacht von hundert Tonnen erfordert mindestens einen Kapitän, einen Obersteuermann3 und fünf bis sechs Leute, und von diesem zur Führung des Schiffes unentbehrlichen Personal war ein Schiffsjunge allein übrig …! Woher endlich kam dieser Schoner, aus welchem australischen Gebiet oder welchem ozeanischen Archipel? — Und wohin war er bestimmt? Auf diese Fragen, welche jeder Schiffer gestellt hätte, wenn ihm der »Sloughi« in diesen einsamen Meeresteilen begegnet wäre, würden die Kinder wohl haben Antwort geben können; es war jedoch weder ein Segel in Sicht noch einer jener transatlantischen Dampfer, deren Reiserouten