»Hab mir schon gedacht, dass du hier bist, aber … Marianne, was machst du denn da?«
»Ich dachte, ich … finde hier vielleicht irgendeinen Hinweis, wer Charlotte …« Sie brach ab und machte Anstalten aufzustehen. Er half ihr hoch. Sie stöhnte. »Dieses Hocken ist nichts mehr für meine Knie.«
»Die Polizei war doch schon hier. Die schauen sich ihren Laptop an und …«
»Sie könnten etwas übersehen haben.«
Hardy fasste sie um die Schultern. »Schatz, wenn ich dich so anschaue … schläfst du überhaupt noch? Ich besorg dir ein Schlafmittel, eine Zeit lang kann man das mal nehmen, sagt mein Arzt.«
»Das ist lieb.« Sie hatte tatsächlich keine Nacht richtig geschlafen seit der Nachricht von Charlottes Tod und kaum etwas gegessen. Doch das war nicht wichtig gewesen. Jetzt, da sie einen Zettel mit einer Nummer besaß, vielleicht schon. Hardy hatte recht: Sie musste mehr auf sich achten.
Hardy lächelte. »Weißt du, ich hab mir überlegt, wir könnten nach der Beerdigung zusammen wegfahren. Dieses trübe Wetter zieht doch noch mehr runter. Ein bisschen Sonne tanken auf den Kanaren oder so …«
Sie machte sich los. »Wie bitte, Hardy? Meine Tochter ist ermordet worden, und du schlägst vor, Urlaub auf den Kanaren zu machen? So mit Cocktail am Strand und Wellenbaden?«
»Ich wollte doch nur … ich will doch nur, dass du ein bisschen Abstand bekommst von …« Er machte eine ausladende Handbewegung. »Von all dem hier. Du kannst hier nichts tun. Schatz, lass die Polizei ihre Arbeit machen!«
»Die Polizei, ja? Selbst wenn die das Schwein jemals kriegen sollten, dann heult er denen vor Gericht was von seiner schwierigen Kindheit vor, kriegt ein paar Jährchen, die er auf einer Arschbacke absitzt, die U-Haft wird auch noch angerechnet, und dann wird er wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Charlotte dagegen …« Sie biss sich auf die Lippen, und ihre Augen wurden feucht. »Charlotte ist tot, für immer! Alles, was ich tun kann …« Sie brach ab.
Er starrte sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Was willst du denn tun, Marianne?«
»Na, was wohl?«
»Privatdetektiv spielen oder wie?«
Sie schwieg.
»Du meinst das ernst?!«
Marianne trat einen Schritt zurück. »Mein Leben ist vorbei, Hardy. Es gibt nur noch eins, was ich will …«
»Nein, nein, nein!« Er packte sie wieder bei den Schultern. »Schatz, das ist alles noch ganz frisch, natürlich geht es dir schrecklich. Aber mit der Zeit …« Er sah sie forschend an. »Du glaubst mir jetzt nicht, weil alles so schlimm ist. Aber bitte, Marianne, vertrau mir, es wird eines Tages wieder ein Leben geben, für dich … für uns. Vielleicht wird es nie ganz so wie vorher sein, aber …«
»Richtig, es wird nie wieder sein wie vorher!« Noch einmal machte sie sich los. »Alles, was ich jetzt noch will, ist Gerechtigkeit. Verstehst du, Hardy? Gerechtigkeit!«
»Und die willst du selbst herstellen? Und wie bitte? Indem du dich selbst auf die Suche nach einem Mörder machst?«
Marianne holte tief Luft. »Ich bin müde, ich brauche jetzt Ruhe.«
»Falls du irgendetwas entdeckst, dann musst du damit zur Polizei gehen.« Hardy machte ein besorgtes Gesicht. »Das sind die Profis, nicht du.«
Sie lächelte dünn. Er konnte ihr nicht helfen. Die Kanaren … er hatte keinen Schimmer, wie es ihr ging. »Mach dir keine Sorgen.« Sie berührte kurz seine Hand.
»Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst!«
»Natürlich mache ich keine Dummheiten. Aber ich brauche jetzt wirklich Ruhe.« Er tat ihr leid. Der gute alte Hardy, mit dem sie ihren Lebensabend hatte verbringen wollen. Und sie hatte sich darauf gefreut. Große Sprünge konnten sie beide nicht machen, doch sie planten seit Langem, was sie als Rentner tun würden: Ausflüge, Städtereisen, das Atelier für Mariannes Malerei, das in Hardys Schrebergartenhäuschen entstehen sollte … und ähnlich bedeutungslose Aktivitäten, die keinen Sinn mehr ergaben.
Hardy, rücksichtsvoll wie immer, verabschiedete sich, er hatte den Wink verstanden. Nachdem die Wohnungstür ins Schloss gefallen war, holte Marianne den Zettel aus ihrer Tasche und ging ins Wohnzimmer, um die Nummer von ihrem Festnetzanschluss anzurufen. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen. Sie würde ganz freundlich tun, ahnungslos, so als verdächtigte sie den Kerl nicht, ihre Tochter ermordet zu haben. Sie würde behaupten, schwerhörig zu sein und ihn bitten, seinen Namen zu wiederholen. Sie würde …
»Nele hier.« Eine Frauenstimme? Marianne war überrascht.
»Nele? Hier ist Charlottes Mutter. Sind Sie eine Freundin von Charlotte?«
»Ich … ich kenne keine Charlotte.« Ihre Stimme klang schrill. »Charly …« Sie atmete schwer. »Was wollen Sie überhaupt von mir?«
Charly? »Meine Tochter ist tot, wussten Sie das? Oder wissen Sie etwa über ihren Tod? Ich wäre Ihnen sehr …«
»Rufen Sie mich nie wieder an!«
In der Leitung knackte es einmal, dann folgte das Besetztzeichen. Diese Nele hatte gelogen, so viel stand fest. Und sie hatte Angst …
Natürlich hatte Roman Nina abends mit seinem edlen Privatwagen abgeholt. Sie überprüfte den Sitz ihres Lippenstiftes im Autospiegel und machte den Ohrhänger los, der sich in ihrem Seidenschal verheddert hatte. Sie hatte sich schick gemacht, so als wollte sie ins Theater statt zu einer Befragung. Doch so fühlte sie sich etwas wohler neben Roman, der oft mit Anzug und Krawatte gekleidet war, dieses Mal unter einem feinen Wollmantel.
Roman parkte das Cabrio in einer Seitenstraße in der Nähe des Stadttheaters. »Wollen wir?« Er lächelte.
Als sie ausstiegen, traf sie ein böiger Wind. Helles Licht fiel aus den hohen Fenstern des Theaters auf die Straße. Zwischen den Säulen des Vorbaus waren die ersten Besucher zu sehen, die die breite Treppe herunterkamen, ihre Mantelkrägen aufstellten und die Straße Richtung Stadtbahnhaltestelle überquerten.
Sie warteten vor dem Theater. Die NRW-Fahne vor dem Rathaus neben dem Theater knatterte im Wind, eine leere Plastikflasche rollte über den Boden. Roman band seinen Schal enger und beugte sich zu ihr. »Vincent Spiekerkötter ist nicht sonderlich groß, blond und lächelt gern gelangweilt in die Runde. Wahlweise blasiert.«
Nina lachte. »Ich habe ihn auch gegoogelt. Gelangweilt trifft es. Und sie sind zu dritt, richtig?«
Roman nickte lächelnd. »Daddy und sein Goldjunge plus Lebensabschnittsgefährtin.«
Immer mehr Theaterbesucher strömten aus dem Gebäude. Nina versuchte vergeblich, den Überblick zu behalten. Schließlich fiel ihr ein großer, schlanker Mann mit grauen Haaren auf, die er zum Pferdeschwanz gebunden trug. Er schaute sich suchend um und zupfte nervös an seinem Einstecktuch. Ihm folgte eine deutlich jüngere, platinblonde Schönheit im hellen Pelzmantel – und Vincent Spiekerkötter, den Blick auf sein Handy geheftet.
Roman hatte ihn auch bemerkt. Sie gingen auf den Teenager zu.
Der grauhaarige Mann trat ihnen entgegen. »Sie sind …? Sind Sie diejenigen, also …« Er senkte seine Stimme. »Also von der Kripo?«
»Ganz recht.« Roman zeigte seinen Polizeiausweis.
»Timo Spiekerkötter.«
Nina kam der Name vage bekannt vor. Sie zog ebenfalls ihren Ausweis aus der Manteltasche, doch Spiekerkötter winkte ab.
»Wir müssen das nicht so förmlich machen.« Er gab zuerst Nina, dann Roman die Hand. »Und das